Die Ukraine vor der Unabhängigkeit

■ Bushs Angebot, die Ukraine nach dem Referendum anzuerkennen, könnte der „Union souveräner Staaten“ den Todesstoß versetzen/ Die Verbindungen zur „Rubelzone“ können nicht schnell gelöst werden/ Belastungen des Verhältnisses zu Rußland

Berlin (taz) — In Lwow, Kiew und Odessa wird an diesem Wochenende nicht nur über die Unabhängigkeit der Ukraine entschieden — auf dem Spiel steht der verzweifelte Versuch Michail Gorbatschows, an irgendeinem noch so lockeren Staatenbündnis festzuhalten. Seinen Todesstoß hat das Projekt „Union souveräner Staaten“ möglicherweise am Dienstag in Washington erhalten. Ausgerechnet der Mann, der noch im August in Kiew erklärte, die Loslösung der Ukraine vom Zentrum sei selbstmörderisch, George Bush, hat jetzt die baldige völkerrechtliche Anerkennung der Republik in Aussicht gestellt. Mit dieser Erklärung im Rücken wird der zeitgleich mit dem Unabhängigkeitsreferendum zu wählende ukrainische Präsident kaum noch zu bewegen sein, für die neue Union einzutreten. So sieht es auch die sowjetische Regierung. Sergej Tarasenko, rechte Hand des Außenministers Schewardnadse: „Die rasche Anerkennung durch die USA könnte die Ukraine in der Auffassung bestärken, daß es keinen Grund gibt, an einer neuen Union teilzunerhmen.“ Resigniert fügte er hinzu: „Aber ich verneine nicht das Recht der USA, über diese Frage nach eigenem Gutdünken zu entscheiden.“ Mit ihrem dramatischen Kurswechsel hat Bush das nach der jetzigen Meinung der US-Administration „in sich widersprüchliche“ Manöver aufgegeben, sowohl gesamtstaatliche Unionsstrukturen als auch unabhängige Republiken in der Nachfolge der UdSSR zu befürworten.

Am Ausgang des Referendums besteht kein Zweifel. Selbst die russischstämmige Arbeiterschaft in den Industrierevieren des Ostens wird Umfragen zufolge für die Trennung von der Union stimmen. Ausschlaggebend ist der Wunsch, dem sowjetischen Elend zu entfliehen. Potentiell ist die Ukraine aufgrund ihrer Rohstoffvorkommen, ihrer Schwarz- und Roterdeböden, ihrer schwerindustriellen Basis und ihrer qualifizierten Arbeiterschaft ein reiches Land. Im Warenaustausch mit der Union ist ihre Bilanz ausgeglichen. Sie könnte als Rohstoff- und Energieexporteur auf den westlichen Märkten die Devisen erwirtschaften, die für die ökonomische Reform unerläßlich sind. Gegenwärtig aber sind diese Potenzen schwer realisierbar. Der Maschinenpark in der großen Industrie ist veraltet, der Stand der Infrastruktur erlaubt keine rasche Expansion, die Bodenerosion schreitet fort. Eine rasche Trennung der ökonomischen Verbindungslinien zur Union, insbesondere zu Rußland würde verheerende Folgen haben: Schon jetzt ist ein Teil der Produktion unterbrochen, z.B. in der Kohleförderung, wo das Grubenholz aus Rußland fehlt.

Die Ukraine will einen Teil ihrer ökonomischen Probleme durch die rasche Einführung einer eigenen Währung lösen. Tatsächlich könnte sich die Wirtschaft des Landes dadurch vor den periodischen, inflationstreibenden Rubelüberschwemmungen schützen. Aber wie wäre die Stabilität dieser neuen Währung ohne starke Devisenreserven zu sichern? Wie wären die Rechnungen im Handel mit den Staaten der „Rubelzone“ — jetzt selbstverständlich auf Dollarbasis — zu begleichen? Die ukrainischen Führer versichern, an einer „allseitigen Zusammenarbeit“ mit Rußland interessiert zu sein. Aber der Abschied von der Union wäre auch und vor allem ein Abschied von Rußland, das Ende einer vielhundertjährigen Verbindung. Nicht nur russischen Konservativen ist die Trennung von der Geburtsstätte des Christentums in dieser Weltregion, von der Wiege der russischen Zivilisation unvorstellbar. Zu den „Verletzungen“ des Identitätsbewußtseins tritt eine weitere Belastung: die ungelösten Grenz- und Minderheitenfragen. Die russisch bewohnte Krim ist erst in den fünfziger Jahren zur Ukraine geschlagen worden. Werden die Minderheitenrechte der Menschen dort ebenso geachtet werden wie die des russischen Proletariats im Donbass, das bisher in nationalen Fragen eher lax reagierte? Die beiden Kandidaten um das Amt des Präsidenten, der favorisierte Wendekommunist Krawtschuk und sein Gegner Tschornowil, langjährig inhaftierter Aktivist der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung, geben sich demokratisch, „westlich“, zivil. Aber sie werden von der nationalistischen Welle mitgerissen werden, die nach der Unabhängigkeit das Land überrollen wird. Christian Semler