Die Angst vor der Atommacht Ukraine

■ „Entnuklearisierung“ als Vorbedingung für die Anerkennung der Ukraine durch USA und EG?/ Gefährlicher Zusammenhang zwischen Nuklearstatus und ungelösten Minderheitenfragen

Berlin (wps/taz) — „Wir sind nicht gerade alarmiert, aber wenn hier etwas schiefgeht, geht es gründlich schief.“ Der Vertreter des US State Department, von dem diese Kurzdiagnose der ukrainischen „Lage“ stammt, wollte anonym bleiben und tat gut daran. Die amerikanische Politik schlingert seit geraumer Zeit zwischen Stützungsaktionen für Gorbatschow und Avancen an die Herrscher der neuen Republiken. Auf die Ankündigung, umgehend die Ukraine völkerrechtlich anerkennen zu wollen, folgte ein Bedingungskatalog. Deren wichtigste Elemente sind die Anerkennung der Abrüstungs-, Rüstungskontroll- und Nonproliferationsverträge, die „Entnuklearisierung“ des ukrainischen Territoriums sowie die Achtung der Menschen — einschließlich der Minderheitenrechte. Thomas Niles, im State Department für Europa zuständig, wird umgehend zu einer Erkundungstour nach Kiew aufbrechen.

Was die USA beunruhigt, sind die 178 in der Ukraine stationierten Interkontinantalraketen, die unter das „Start“-Abkommens fallen, ist eine unbekannte Anzahl von atomaren Sprenkköpfen — mindestens 2.000 — in ukrainischen Silos, sind die in der neuen Republik stationierten, konventionellen sowjetischen Streitkräfte von gegenwärtig 1,2 Millionen Mann. Damit verfügt die Ukraine über ein größeres atomares Arsenal als England oder Frankreich und — potentiell — über stärkere Landstreitkräfte, als die Nato in Mitteleuropa aufbringen kann.

Als die Verantwortung über „strategische Waffen“ noch unbestritten bei Gorbatschow lag, versicherte die ukrainische Führung, nicht nur keine Atomstreitmacht sein zu wollen — die Atomwaffen sollten außerdem von ukrainischem Territorium abgezogen und vernichtet werden. Jetzt hat sich die Argumentationslinie verändert. An die Stelle einseitiger atomarer Abrüstung ist die Forderung nach internationalen vertraglichen Vereinbarungen getreten. Vor und nach den Wahlen versicherte Krawtschuk, die Ukraine wolle keinen „Druckknopf“ für atomare Einsätze. Auch stellte er klar, daß an die Stelle der einen Nuklearmacht Sowjetunion nicht deren vier treten könnten. Er besteht aber auf der Beteiligung der Ukraine an einem Kontrollgremium der vier atombewaffneten Republiken Rußland, Kasachstan, Weißrußland und eben der Ukraine. Diesem Gremium soll die gemeinsame Verantwortung für die strategischen Waffen übertragen werden — Gorbatschow wurde nicht einmal mehr erwähnt. Damit erfüllt sich eine amerikanische Schreckensvision: das Ende der „Berechenbarkeit des Sicherheitspartners“.

Nun könnte die amerikanische — und ihr folgend die westeuropäische — Diplomatie sich mit der Einsicht beruhigen, daß die Ukraine lediglich ein paar Trümpfe für die Wirtschaftsverhandlungen mit dem Westen in der Hand haben will. Wäre da nicht der Zusammenhang der Rüstungs- mit der Nationalitätenfrage. Zwar haben beim Referendum die russisch bewohnten Gebiete im Donbass und auf der Krim für die Unabhängigkeit gestimmt. Aber diese Entscheidung war ökonomisch motiviert, war nicht identisch mit der Zustimmung zu irgendeiner ukrainischen Identität. Ökonnomische Auseinandersetzungen zwischen der russischen Föderation und der Ukraine könnten um so leichter in den Streit um Territorien umschlagen, als wichtige Teile des östlichen Industriereviers erst in den 30er Jahren, die Krim erst in den 50ern an die Ukraine fielen. Rumänien erhebt unter anderem Anspruch auf die Nordbukowina, ein Territorium, das ihm nach zwei Jahrhunderten habsburgischer Herrschaft nach dem Ersten Weltkrieg angegliedert wurde. In der Westukraine, also dem alten Ostgalizien um Lwow, regt sich eine „Los von Kiew“-Bewegung. Nicht wenige Bürger der Karpatho-Ukraine, die bis 1945 zur Tschechoslowakei gehörte, sähen sich lieber von Prag aus regiert. All diese Probleme könnten friedlich und durch Verhandlungen gelöst werden. Präsident Krawtschuk hat gegenüber den Russen, den Amerikanern und EG- Emissären großzügige Minderheitenregelungen in Aussicht gestellt. Aber das Menetekel Jugoslawien ist für alle Beteiligten am Anerkennungsprozeß gut sichtbar an der Wand zu lesen. Christian Semler