Treffen der „slawischen Brüder“ in Minsk

Berlin (taz) — Mit immer schrilleren, immer verzweifelteren Aufrufen melden sich nach dem Unabhängigkeitsvotum der Ukraine die Anhänger eines neuen Unionsvertrages zu Wort. Nach Gorbatschow jetzt Anatoli Sobtschak, Bürgermeister von St. Petersburg und Heros der August- Tage. Wie der sowjetische Präsident sprach auch Sobtschak anläßlich eines Paris-Aufenthaltes von der Gefahr neuer Militärputsche und bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen den Republiken als Folge von Grenzstreitigkeiten. Speziell der Ukraine prophezeite er, daß sie im Falle des Nichtbeitritts zur „Union Souveräner Staaten“ mit Gebietsforderungen Rußlands rechnen müsse.

Unbeeindruckt von solchen Warnungen gab der ukrainische Außenminister Slenko am Dienstag in Kiew bekannt, die Präsidenten der drei slawischen Republiken Rußland, Ukraine und Weißrußland würden am Wochenende in Minsk zusammentreffen, um über ihre künftige Zusammenarbeit zu beraten. Dem Verhältnis zur russischen Föderation werde dabei „oberste Priorität“ eingeräumt. Auch von russischer Seite war nur Konstruktives zu hören: „Rußland respektiert die Ergebnisse des Referendums [...] und wird alles tun, damit die Verbindungen zur Ukraine nicht in Zweifel gezogen, sondern gestärkt werden“, äußerte Gennadi Burbulis, stellvertretender Regierungschef der russischen Föderation und rechte Hand Jelzins. Burbulis gehört der jetzt im Moskauer „Weißen Haus“ tonangebenden Gruppe der „Jungtürken“ an, die dem Unionsvertrag zunehmend skeptisch gegenüberstehen. Sie sehen in dem Projekt ein schlechtes Geschäft für Rußland, das hauptsächlich für die Kosten der Zentrale und für Transferzahlungen an die asiatischen Republiken aufkommen müßte. Die „Jungtürken“ sehen in Rußland den legitimen Erben, den Rechtsnachfolger der UdSSR, plädieren für eine weitgehende Übernahme der sowjetischen Westverschuldung und möchten auch in die Weltmachtverantwortung der verblichenen UdSSR einsteigen. Aus dieser Orientierung folgt, daß die Unabhängigkeitsbestrebungen in den SU-Nachfolgestaaten unterstützt werden. Statt der Union strebt die neue Führungsmannschaft Rußlands zwei- und mehrseitige Verträge mit den neuen Republiken an.

Für diese Linie soll auf dem Minsker Treffen auch Weißrußland gewonnen werden, das zwar in dem Physiker und Tschernobyl-Aktivisten Schuschkewitsch einen neuen, unbelasteten Präsidenten hat, im übrigen aber immer noch von der alten Nomenklatur beherrscht wird. Schuschkewitsch ist bislang für den Abschluß eines neuen Unionsvertrages eingetreten, sieht sich aber einer erstarkenden nationalen Bewegung in „Belarus“, wie Weißrußland neuerdings heißt, gegenüber. Für einen Kurswechsel — weg vom Unionsvertrag, hin zu einem Dreiecksabkommen mit den „slawischen Brüdern“ — spricht nicht nur die nationale Renaissance, sondern auch ein handfestes ökonomisches Motiv: Weißrußland ist von den Rohstoff- und Fertigwarenlieferungen aus der Ukraine und der russischen Föderation vollständig abhängig.

Mit dem Minsker Treffen wollen die Ukraine und Rußland auch außenpolitisch aktiv werden, d.h. Befürchtungen des Westens entkräften. Diese hatten sich an wechselseitigen künftigen Minderheitenproblemen ebenso entzündet wie an einer möglichen „atomaren“ Rivalität beider Mächte. In Kiew tat der ukrainische Außenminister deshalb sein möglichstes, die „nichtnukleare“, neutrale Zukunft seines Landes zu unterstreichen. Die Ukraine werde in alle Verträge einschließlich des Non- Proliferationsabkommens eintreten. Sie werde alle Menschenrechtsabkommen sowie die KSZE-Akte samt deren Garantien unterzeichnen. Vor dem Besuch des USA-Emissärs Niles ist damit für gutes Wetter gesorgt. Christian Semler