Rüstungskonversion in der Wissenschaft ist lebenswichtig

■ Michail Gorbatschow, letzter Präsident der UdSSR

Gorbatschow ist auf die einzelnen Fragen der Wissenschaftler in einer längeren Stellungnahme eingegangen. Hier seine Antwort:

In allen Fragen, die WORLD MEDIA mir geschickt hat, spiegelt sich die Sorge um die Schicksale der sowjetischen Wissenschaft und den Erhalt ihrer internationalen Position wider. Klar ist, daß die Zukunft unserer Wissenschaft davon abhängt, wie die Zukunft unseres Landes im ganzen sein wird. Ungeachtet der zukünftigen Form der Völkergemeinschaft, die innerhalb der Sowjetunion historisch gewachsen ist, bin ich überzeugt davon, daß wir eine Großmacht bleiben werden, auch auf dem Gebiet der Wissenschaft.

Natürlich konnte die Krise, in der wir stecken – sie ist ja nicht nur ökonomischer Art – für die Wissenschaft unseres Landes nicht ohne Folgen bleiben. Die Prozesse der Desintegration, die bei uns in letzter Zeit ablaufen, sind für die Wissenschaft besonders gefährlich. Und das Problem ist hier in erster Linie politischer Natur. Das begreifen unsere Wissenschaftler sehr wohl und verlangen deshalb den Erhalt eines einheitlichen wissenschaftlichen Raumes.

Wissenschaftler brauchen nicht nur die Garantie der Freiheit ihrer Tätigkeit, sondern auch entsprechende materielle Versorgung, die Unterstützung durch Staat und Gesellschaft. Für die Überwindung der ökonomischen Schwierigkeiten braucht man Zeit. Aber ich bin sicher, daß der Übergang zur Marktwirtschaft dazu führen wird, daß die internationale Position unserer Wissenschaft wiederhergestellt wird.

Ich werde gefragt, ob unsere Wissenschaft nicht durch das Abwandern bedeutender Wissenschaftler bedroht ist. Ich halte es für außerordentlich wichtig, alles dafür zu tun, daß die Migration der Wissenschaftler nicht zu einer „Einbahnstraße“ wird. Infolge dessen würde auch die internationale Wissenschaftlergemeinschaft ärmer werden, denn sie hätte eines der wichtigsten nationalen Zentren verloren. Damit das nicht passiert, müssen wir sehr schnell neue, ungewohnte Formen der internationalen Zusammenarbeit entwickeln. Wir sollten gemeinsame Institute und Laboratorien gründen, vielmehr an gemeinschaftlichen Projekten mitarbeiten und an internationalen Wettbewerben teilnehmen. Ich hoffe, daß man dadurch das Problem der Abwanderung von Wissenschaftlern entschärfen kann.

Was die Möglichkeit der Umwandlung der Militärforschung in Zivilforschung angeht, so würde ich das Problem weiter fassen wollen. Kann die moderne Wissenschaft die Militarisierung der Forschungen als Erbe des Kalten Krieges überwinden? Ist unsere Zivilisation reif und weise genug, um von der Verwendung der wissenschaftlichen Kenntnisse zur Herstellung immer vollkommenerer Massenvernichtungsmittel abzusehen? Es geht darum, die philosophischen Aspekte des Herangehens an die Wissenschaft als Mittel zur Erkenntnis und Veränderung der Welt neu zu definieren.

Für uns ist die Rüstungskonversion auf dem Gebiet der Wissenschaft lebenswichtig. Jedoch ist dies genauso schwierig zu handhaben wie Rüstungskonversion im Bereich der Produktion. Es ist äußerst schwierig, das Gewohnheitsdenken, das Bewußtsein, „sich schützen zu müssen“, zu verändern, da es ein Erbe der Geheimhaltung und Isolation ist. Nicht alle Wissenschaftler, auch wenn sie hochqualifiziert sind, werden ihren „Platz“ unter den neuen Bedingungen finden können.

Die Wissenschaft als solche, die Universitäten und Forschungszentren im einzelnen, werden kein einziges politisches Problem lösen. Insbesondere nicht das Problem der Schaffung eines neuen Europas. Dieser Sache müssen sich sowohl Regierungen als auch Gesetzgeber, Unternehmer, Wissenschaftler, Künstler, politische Parteien, Gewerkschaften, Kirchen gemeinsam widmen.

Natürlich braucht die neue europäische Gemeinschaft auch die enge Zusammenarbeit der Wissenschaftler verschiedener Länder. Dabei meine ich nicht nur die Naturwissenschaftler, sondern auch die Geisteswissenschaftler, die noch bis vor kurzem als Instrumente des Kalten Krieges mißbraucht wurden.

Uns muß eine einfache Wahrheit bewußt werden. Der Beitrag der Wissenschaftler und der schöpferischen Intelligenz überhaupt zur Rettung und für den Fortschritt der Menschheit ist nicht so sehr mit ihren professionellen Kenntnissen, mit ihrem Wissen und Können verbunden als mit ihrer moralischen Position, mit dem Wunsch und der Bereitschaft, mit all denen zu arbeiten, die für Demokratie, für Freiheit und Frieden sind.

Michail Gorbatschow ist studierter Jurist und brachte dann eine typische Parteikarriere in der KPdSU hinter sich. Mit Landwirtschaftsexperimenten erwarb er sich früh den Ruf eines Agrarfachmanns und übernahm 1978 die ZK-Abteilung Agrarwirtschaft.