Das Ännchen von Tharau

■ Ein junges, versteinertes Mädchen mit altmodischen Zöpfen ist Schwarm aller Männerchöre und die berühmteste Figur der litauischen Metropole Klaipeda. Eine Reise ins Memelland.

Ein junges, versteinertes Mädchen mit altmodischen Zöpfen ist Schwarm aller Männerchöre und die berühmteste Figur der litauischen Metropole Klaipeda.

Eine Reise ins Memelland.

VONKLEMENSLUDWIG

Der Schriftzug am alten Backsteinhaus ist ziemlich verblichen, aber immer noch lesbar: „Ernst Merker — Getreide Saaten Mehl Futtermittel, Tel. 570“. Er stammt aus einer Zeit als die Stadt, heute Klaipeda, noch Memel hieß. Enge Straßen verbinden gradlinig Ost und West sowie Nord und Süd. Viele Häuser sind von Efeu und anderen Grünpflanzen umwuchert. Hier und da einige Erinnerungen an die Vergangenheit, die nicht nur idyllisch sind: Die alte jüdische Schule zum Beispiel, die schon lange keine Kinder mehr gesehen hat, oder das ehemalige Gestapo- Hauptquartier auf dem Weg zum Hafen, ein wuchtiger Bau. Der Schrecken, der von ihm ausging, läßt sich noch heute erahnen.

Im Westen münden die Straßen auf den Theaterplatz, wo ein junges versteinertes Mädchen mit altmodischen Zöpfen steht. Das Standbild des Ännchen von Tharau auf dem Brunnen, nach dem ostpreußischen Barockdichter Simon Dach benannt, ist lange das Wahrzeichen von Klaipeda/Memel gewesen; das Ännchen die berühmteste Figur des Dichters und Schwarm zahlreicher Männerchöre. Ob das historische Vorbild des Ännchen mehr litauisches oder deutsches Blut hatte, interessierte jahrhundertelang niemanden. Sie war für alle Memelländer da. 1931 mußte das Ännchen einer Hitler-Büste weichen, sechs Jahre später verschwand es endgültig in den Wirren des Zweiten Weltkrieges.

Jahrhundertelang war die Stadt mit ihrer Umgebung ein lebendiger Beweis wie verschiedene Kulturen miteinander lebten. Angefangen hatte die Besiedlung mit den Kuren. Die Erinnerung an sie ist zumindest noch in den Bezeichnungen erhalten geblieben — die kurische Nehrung zum Beispiel, eine schmale Landzunge, die vom alten Ostpreußen bis Klaipeda/Memel reicht. An dem eisfreien Hafen der Stadt ließen sich deutsche Juden, Polen und Russen nieder. Auf dem Land stellen die Litauer die Bevölkerungsmehrheit. Die Stadt Memel wurde 1252 vom livländischen Schwertbrüderorden gegründet, der später im deutschen Orden aufging. Die Bewohner Memels fühlten sich vor allem dem preußischen Königshaus verbunden.

Nirgendwo hat sich der Charakter der Region so gut erhalten wie auf der kurischen Nehrung. Die Straße von Klaipeda nach Nida, auf deutsch Nidden, dem litauischen Grenzort, ist nur mit einer Sondergenehmigung passierbar. Ökologische Gründe sind dafür verantwortlich. Die Landzunge ist ein sensibles Ökosystem. Kiefernwälder, schlanke, helle Birken und Sanddünen — die höchsten in Europa — prägen die Szenerie.

Reiseziel für Heimwehtouristen

Die gerade in Litauen so geschmähte Planwirtschaft und Abschottungspolitik war für die kurische Nehrung die Rettung. Die Gesetze des freien Marktes hätten hier ganz sicher Sylter Verhältnisse geschaffen mit Hotelketten, mit weiträumig abgesperrten Gebieten. Schilder die unmißverständlich warnen „Privatbesitz — Betreten verboten“. Wird es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis diese Entwicklung auch hier vollzogen ist? Der litauische Staat wird wegen seines chronischen Devisenmangels auf Investitionen jeder Art setzen: Die kurische Nehrung als attraktives Urlaubsziel nicht für Erholungsbedürftige. Auch viele „Heimwehtouristen“, Deutsche, die nach dem Zweiten Weltkrieg das Memelland verlassen haben, lockt die neue Öffnung. Einige Reiseveranstalter haben das längst erkannt. Die Großen der Branche werden nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Nida/Nidden gleicht in der Hauptsaison eher einem verschlafenen Fischernest als einer touristischen Hochburg. Restaurants, Kioske, Discos, aufdringliche Händler und Andenkenverkäufer sind bislang noch rar. Wenn dem Ort dennoch eine große touristische Zukunft vorhergesagt wird, dann ist dies ein Schritt zurück in die Vergangenheit: in den dreißiger Jahren war er ein ausgesprochen populäres Ausflugsziel für die Menschen in Ostpreußen — bis zum alten Königsberg sind es gerade noch achtzig Kilometer.

Nidden beherbergte zu Beginn des Jahrhunderts eine berühmte Künstlerkolonie. Zahlreiche Maler, darunter Lovis Corinth, stellten ihre Staffelei auf. Zahlreiche Dichterinnen und Dichter ließen sich von der einzigartigen Atmosphäre inspirieren. Thomas Mann, der berühmteste unter ihnen, bezog 1931 in Nidden ein festes Sommerquartier. Nach mehreren Besuchen entschloß er sich, auf dem „Schwiegermütterberg“ ein Haus zu errichten. Dort schrieb er große Teile des Romans Joseph und seine Brüder.

Auf dem Weg vom Dorfkern zum Haus des Dichters steht eine kleine Kirche. Ein alter Friedhof umgibt sie. Die Grabinschriften versetzen den Betrachter eher an die deutsche Nordseeküste statt ins ferne Litauen:

„Als wir mit des Haffes Wellen kämpften/ wo Menschenhilf vergeblich war/ wo nichts zu sehn war als der Tod/ riefen wir den Herrn in unserer Not/ Herr rett' unsere Seele, nimm uns zu Dir.“

Politisch war das Memelland bis zum Ersten Weltkrieg der Nordostzipfel Ostpreußens. Als die Siegermächte die Grenzen neu festlegten, trennten sie das Territorium ohne Volksabstimmung vom Deutschen Reich ab — eine machtpolitische Entscheidung, denn selbst die Litauer attestieren heute, daß es dafür in einem Referendum keine Mehrheit gegeben hätte. Ungeachtet der unterschiedlichen Herkunft haben die Menschen ihre Zugehörigkeit zu Preußen nie in Frage gestellt. Selbst der litauisch sprechende Teil auf dem Land identifizierte sich mehrheitlich mit dem großen Nachbarn im Westen. Gründe dafür sind vor allem die lange historische Tradition und der Glaube. Wie die Preußen waren die Memelländer überwiegend protestantisch, im Gegensatz zu den eigentlichen Litauern. Ihre Republik nennen sie „Groß-Litauen“, das Memelland und Ostpreußen „Klein-Litauen“. Es wäre verfehlt, das Memelland zum Gegenstand deutsch- chauvinistischer Großmachtansprüche zu erheben. Andere Kulturen haben einen wesentlichen Beitrag zur eigenständigen memelländischen Identität geleistet. So manche vertriebenen deutschsprachigen Memelländer dünkten sich bis in die jüngere Vergangenheit hinein etwas Besseres. So urteilte ihr Verbandsorgan, das 'Memelländer Dampfboot‘, noch im März 1967: „Die große Chance, die sich ihn [den Litauern] 1923 bot, 150.000 Nachbarn mit überlegener Kultur zu Freunden und Lehrmeistern zu gewinnen, wurde von ihnen gründlich verpaßt.“

Die Litauer betrachten das Jahr 1923 durchaus nicht als verpaßte Chance. Nach vierjähriger französischer Militärverwaltung besetzten damals litauische Truppen das Gebiet und gliederten es der jungen Republik an. Der Einmarsch stieß auf wenig Sympathie bei der Bevölkerung, doch kam es kaum zu offenem Widerstand. Selbst die Regierung in Berlin hatte keine ernsten Einwände. Gerüchten zufolge plante Frankreich, das Gebiet Polen anzugliedern, und das wollte Deutschland auf jeden Fall verhindern.

Die litauische Regierung ließ den Deutschen zunächst ihre Machtpositionen. Am täglichen Leben der Menschen änderte sich wenig. In Klaipeda/Memel wurde weiterhin überwiegend deutsch gesprochen. Selbst als der diktatorische Präsident Smetona 1926 das Kriegsrecht verhängte, bedeutete das keinen grundlegenden Wandel. Dennoch wurde das Gebiet in den dreißiger Jahren Schauplatz eines Volkstumskampfes, mit dem die Nazis die Besetzung vorbereiteten. Im März 1939 hatten sie die litauische Regierung durch blanke Erpressung dazu gebracht, das Territorium abzutreten.

Träume vom großdeutschen Reich

Für die Memelländer war die Nazi- Agitation letztlich fatal. Zwischen den verschiedenen Völkern wurden Gräben aufgeworfen, die es in dem Ausmaß nie gegeben hatte. Am Ende des Zweiten Weltkrieges zählte das Memelland etwa 150.000 Einwohner, davon lebten knapp ein Drittel in der Hauptstadt. Mit dem Rückzug der Wehrmacht wurde die Bevölkerung evakuiert. Klaipeda/Memel fiel weitgehend menschenleer in die Hände der Roten Armee. Heute leben in Klaipeda 300.000 Menschen, die fast alle nach dem Zweiten Weltkrieg aus Litauen, aber auch aus Rußland eingewandert sind.

Von den eigentlichen Memelländern haben sich auf dem Land etwa 30.000 der Evakuierung entzogen oder sind nach Abzug der Roten Armee zurückgekehrt. Jahrzehntelang waren sie Menschen dritter Klasse: nach Russen und Litauern. Um zu überleben, gaben sie sich als Litauer aus, denn während des Stalinismus war die deutsche Abstammung Grund für Haft oder Verbannung.

Seit der Gorbatschow-Ära in Moskau und verstärkt seit der Unabhängigkeit Litauens sehen die deutschstämmigen Memelländer neue Perspektiven. Sie gründeten den Deutsch-Litauischen Kulturverband, dessen Vorsitzende Johanna Jogminiene eine sehr moderate Politik verfolgt. Einzelne Mitglieder in dem Verband machen jedoch keinen Hehl aus ihren Träumen von einem großdeutschen Reich, das über Königsberg bis Memel reichen soll. Derartige Aktivitäten sind immer eine Gratwanderung zwischen den berechtigten Anliegen, das kulturelle Erbe zu wahren und chauvinistischer Großmachtpolitik. Das Ännchen von Tharau, das gemeinsam von Litauern und vertriebenen Memelländern wieder auf dem Theaterplatz aufgestellt worden ist, könnte zum Symbol werden: Größere Freiheit hat noch lange nichts mit nationaler Intoleranz zu tun.