Auf der Strecke geblieben

■ Wer ist der Mann am Plastiktisch gegenüber? Eine Zugverbindung zwischen Heidelberg und Frankfurt

Zwischen Jackets aus nicht ganz hundert Prozent Polyester, fliederfarbenen Steppjacken und einem Koffer im Karomuster wartet er – der letzte freie Platz in diesem Intercity zwischen Heidelberg und Frankfurt (mit Zuschlag). Kaum ist die Sitzfläche erobert, schweift das Auge über die neue Nachbarschaft.

Das Interesse an einem Ruheständler-Paar mit Thermoskanne und einem Kind mit Matchboxauto erlischt, bevor der Zug den Bahnhof verlassen hat. Mal sehen, was es mit dem Anzugträger vom Plastiktisch gegenüber auf sich hat.

Das Haar silbrig, das Gesicht grau. Zwei Faltenschluchten zwischen Nase und Mundwinkeln weisen wie die Bilanzen der Bundesbahn steil nach unten. Das taubenblaue Sakko verleiht der Erscheinung Farbe. Irgendwie kommt einem der Mann ja bekannt vor. Mit der Spannbreite seiner Arme nimmt er die Plastikfläche ein, als ob sie sein Schreibtisch wäre. Keine Cola findet daneben Platz. Ein Zeitungsstapel liegt zerblättert, zerlesen beiseite. Frankfurter Allgemeine, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche, keine taz. Auch keine bunten Heftchen. Die Freitags-Magazine der Tagespresse sind seine einzige Unterhaltungsbeilage. Zwischen seinen Armen ruht jetzt die „Zeitung für Deutschland“. Ein dicker FAZ- Werbekugelschreiber enttarnt den Abonnenten. Er markiert damit die ihm wichtig erscheinenden Stellen. Wenn er nichts Wichtiges findet, klickt er nervös mit dem Kugelschreiber. Klick, klack. Klick, klack.

Neue Fahrgäste stiften Unruhe. Eine Mutter mit einem Kind auf dem Arm und einem zweiten im Schlepptau sind zugestiegen. Alle drei stolpern über den Koffer im Karomuster. Da verwandelt sich der Zeitungsleser vom Plastiktisch gegenüber plötzlich in einen Knigge-Helden: „Da, nehmen Sie meinen Platz. Da haben Sie Platz für Ihr Kind.“ Spricht's und ist auch schon aufgestanden, über den Koffer gestiegen und auf dem Gang verschwunden, zusammen mit seinem SZ-Magazin. Alle, bis auf Thermoskanne, Matchboxauto und Karokoffer, sind von dieser christlichen Tat der Nächstenliebe beeindruckt.

Das Objekt meiner Beobachtungen hat im Zuge der Eile seine Zeitungen zurückgelassen. Ich bin die einzige, die die Zurückhaltung überwindet und diese Medien als allgemeinen Besitz einzustufen wagt, um sie für Information, Bildung und Unterhaltung zu nutzen. In der Süddeutschen ist sogar etwas ausgeschnitten. Den Artikel darüber, daß Sony den Berlinern droht, das Gelände am Potsdamer Platz doch nicht zu kaufen, hat der Held dagegen im Blatt gelassen. Im FAZ-Magazin hat er dafür im „Notizbuch Johannes Gross. Neueste Folge. Einundsiebzigstes Stück“ blau unterstrichen: „Seit Clausewitz sind alle Generalstä...“. Hier endet die Markierung, um einige Zeilen später wieder hervorzuheben: „...search and destroy heißt die Losung; niemand ist dazu gerüstet, Feinde nicht zu bekämpfen, sondern zu trennen; Siege nicht zu erzielen, sondern zu vermeiden und den Frieden herzustellen ohne Schlacht. Die Armeen brauchen noch eine Zeit, um Polizei zu lernen.“

Wer dieses Zitat für so wichtig hielt, verrät ein weißer Adreßaufkleber auf der ersten Zeitungsseite. Darauf steht, kein Koffer im Karomuster hätt's gewußt, „Dr. Franz Alt“. Sabine Jaspers