Wer in Afrika wartet, wartet lange...

... aber vielleicht nicht für immer. Ein Bericht vom ersten panafrikanischen Kunstmarkt in Abidjan  ■ Von Bettina Rühl

Die Bühne ist viel zu groß für den bloß 1,50 großen Jean Emilien. Die Klänge seiner Mundharmonika und der Kabosy-Gitarre aus seiner Heimat Madagaskar füllen eine gigantische, sterile Kongreßhalle, die wie ein Leninmausoleum wirkt. Dabei erhofft sich der schüchterne Jean Emilien, der 13 Jahre als Straßenmusiker durch seine Heimat tingelte, um Geld zu verdienen, vom heutigen Auftritt im Hotel Ivoire nichts weniger als den Zugang zur Weltbühne. Und er reißt das Publikum mit, obwohl die Jugend von Abidjan bei einem Eintrittspreis von 3.000 FCFA (rund 18 Mark) draußen vor der Tür blieb – 33.000 Franc sind der durchschnittliche Monatslohn.

In den weichgepolsterten Reihen sitzen über 300 Festivalveranstalter, Plattenproduzenten, Kulturmanager und Journalisten aus aller Welt: Afrika und Japan, den USA, Kanada und Europa. Vom 27. März bis zum 1. April fand, dreißig Jahre nach der Unabhängigkeit vieler afrikanischer Staaten, der erste „Markt der afrikanischen Künste und Schauspiele“ (MASA) statt. Das Ziel dieser Mischung aus Markt und Festival: den Reichtum der Kultur im frankophonen Afrika zu exportieren und der ungeregelten Kulturausbeutung durch neue Verbreitungsstrukturen ein Ende zu machen. Denn bislang bedienen sich westliche Künstler und Werbestrategen aus dem Reichtum der afrikanischen Kultur, als wären es No-name-Produkte: Coca-Cola versuchte, dem Symbol des „western way of life“ durch die traditionsreichen Rhythmen der Burunditrommler neue Überzeugungskraft zu verleiehen, Musiker wie Paul Simon oder Peter Gabriel bringen Klänge aus Afrika in Pop- Version in den Westen. An die Quelle fließt meist kein Pfennig zurück.

Veranstaltet wurde der erste MASA von der „Agence de cooperation culturelle et technique“ (ACCT), der Institution der Frankophonie. Aus 14 afrikanischen Staaten – etwa den Komoren und Kamerun, Togo und Madagaskar, dem Benin und dem Senegal – kamen die gut 200 Künstlergruppen, aus denen eine internationale Jury 39 auswählte. Ein breites Spektrum: Folkloristisch wirkende, traditionsreiche „nationale“ Ballettgruppen aus Burkina Faso, der Elfenbeinküste und Burundi, Neuentdeckungen wie Jean Emilien, aber auch etablierte Stars wie Baaba Maal, der charismatische und bekannteste Musiker des Senegal, oder die legendäre Super Rail Band aus Bamako. Auch bei den Tanz- und Theatergruppen gab es ein Wiedererkennen im internationalen Publikum: die Ballettgruppe Ebène aus Burkina Faso beispielsweise, deren Choreographin Irène Tassembedo die traditionellen Rhythmen ihrer Heimat zu einer modernen, internationalen Tanzsprache weiterentwickelt hat, sind keine Unbekannten mehr.

Trotzdem liegen die Veranstaltungsorte, das Hotel Ivoire und das französische Kulturinstitut, weitab vom afrikanischen Leben. Hier bietet Abidjan, die reichste Metropole Westafrikas, dem westlichen Publikum all das, was Afrika die häßlichen Züge nimmt. Im warmen Tropenabend, beim Buffet unter Palmen im Hotelgarten, spulen die Trommler aus dem zentralafrikanischen Burundi in Baströckchen eines dieser Spektakel ab, die dem Westen seit gut zwanzig Jahren sein beliebtestes Bild vom folkloristischen Afrika liefern. Was seine Gründe hat: Finanziell von den Regierungen abhängig, sind viele afrikanische Künstler Sprachrohr auch der modernen Herrschenden geblieben.

Die Dissidenten am Rand

Treichville, einer der gehobenen Slums Abidjans, liegt am anderen Ufer der Lagune, zu erreichen über eine Brücke. Militärs kontrollieren hier jede Nacht die Fahrzeuge, um – nicht ganz erfolgreich – die Zahl nächtlicher Überfälle im Rahmen zu halten. Die Kriminalität steigt mit der Krise im Kaffee- und Kakaoland Elfenbeinküste. Fern vom internationalen Publikum geht die Party in den Nächten während des Festivals in den „quartiers populaires“, den einfachen Wohnvierteln weiter: in Bars und „maquis“, den einfachen Restaurants am Straßenrand, spielen die Musiker, denen der Zutritt zur internationalen Aufmerksamkeit verwehrt blieb.

Serges Kassy, in der Elfenbeinküste ein wohlbekannter Reggaemusiker, gehört zu ihnen. Er lebt und arbeitet in Port Bouet, einem der Armenviertel am Rande Abidjans. Als „Stimme des Volkes“, wie er sich selber bezeichnet, nimmt er bei der Kritik am regierenden „Alten“ kein Blatt vor den Mund. Auch deshalb, meint er, sei er bei der Festivaljury durchgefallen. Daß das Verhältnis der Künstler zu ihren Regierungen sowie politische Intrigen das Programm mitbestimmt haben, meinten auch westliche Festivalbesucher. Dieter Jaenicke, Direktor des Internationalen Sommer Theater Festivals in Hamburg: „Ich kann das nur für den Tanz beurteilen, aber aus dem Senegal fehlen viele der besten Ensembles – sie gelten zu Hause als Dissidenten.“

Nicht nur die politischen Verhältnisse erschweren den afrikanischen Künstlern die Arbeit. Das künstlerische Problem ist in Afrika vom sozialen und wirtschaftlichen nicht zu trennen. Wéré Wéré Liking, mittlerweile international bekannte Choreographin, Schauspielerin und Dramaturgin aus Abidjan bringt die Bedingungen, unter denen viele afrikanische Künstler arbeiten, auf den Punkt: „Den meisten fehlt jede technische Voraussetzung, um überhaupt etwas schaffen zu können.“

Fehlende Strukturen

Nach der Unabhängigkeit träumten die meisten afrikanischen Regierungen ausschließlich von der wirtschaftlichen Entwicklung. Weil sie den Industrienationen hinterhereilen wollten, setzten sie auf die Förderung der eigenen Kultur nicht einen Pfennig. Was macht zum Beispiel ein afrikanischer Kulturminister? Sony Labou Tansi, der berühmteste Dramaturg des Kongo: „Ein afrikanischer Kulturminister telefoniert den ganzen Tag. Angeblich versucht er, die Künstler zu erreichen, aber jeder weiß, daß die Künstler kein Telefon zu Hause haben. Für meine Arbeit habe ich nicht einen Sou Unterstützung bekommen.“

In Workshops kamen während des Festivals die Realitäten des afrikanischen und internationalen Kunstmarktes zur Sprache. In dem Kontinent, dessen Kultur Europa schon seit Jahrhunderten beeinflußt, gibt es für die Kunst bis heute keine Infrastruktur: Kaum Ausbildungsmöglichkeiten, keine Aufnahmestudios, keine Probenräume. Schauspieler und Musiker sind auf die Sportstadien, die französischen Kulturinstitute, Hotels oder Bars angewiesen. Autorenrechte gibt es nicht oder nur auf dem Papier, die Musiker verlieren ihre Einnahmen durch Raubkopien und Piraterie. Steuern bis zu 40 Prozent machen Tourneen für viele Künstler unerschwinglich. Zölle hemmen den Import von Musikinstrumenten oder technischen Geräten. Der innerafrikanische Kulturaustausch scheitert an Zöllen, Visaregelungen und Steuern. Bestehen überhaupt Flug- oder Zugverbindungen innerhalb der afrikanischen Staaten, sind die Reisekosten meist höher als für das Ticket nach Europa.

Bis heute führt daher für die meisten Künstler an Europa kein Weg vorbei, wenn sie zu Hause oder international bekannt sein wollen. Viele sind bereit, dafür einen hohen Preis zu zahlen. Soro N'Gana, Schmied und Hobbymusiker aus dem Norden der Elfenbeinküste, irrt mit seinen drei LPs unter dem Arm durch die hohen, holzgetäfelten Gänge – er ist auf der Suche nach einem Produzenten. Die Traditionen seiner Ethnie, der Senufo, will er erhalten, auch durch seine Musik. Eine Europatournee ist für ihn bislang nur ein Traum – wäre die Bedingung, daß er Balafon gegen Syntheziser tauscht, er ließe sich drauf ein.

„Nützliches Theater“

Haguibo Dembélé ist Regisseur der Gruppe Nyogolon aus Mali. Im Kino des Hotel Ivorie brachten sie den „Streik der Geschlagenen“ auf die Bühne. Voller Humor erzählt das Stück von der Misere der Bettler Bamakos und ihrem Aufstand gegen die Anweisungen des Bürgermeisters. Das Bühnenbild ist einfach, die Farben erdig wie die Savannendörfer Malis. Der Aufstand der Bettler ist voller Musik: kaum ein afrikanisches Theaterstück, das reines Sprechtheater wäre und ohne Tanzeinlagen über die Bühne ginge. Während in den französischen Kulturzentren französischsprachige Stücke vor europäischem Publikum und weitgehend leeren Rängen über die Bühne gehen, kann Nyogolon über Mangel an Publikum nicht klagen: bis zu 500 Leute lassen sich in den Dörfern von den Spektakeln locken. Die ebenerdige „Bühne“ unter freiem Himmel verlockt die Dorfbewohner zum Mitspielen. Die Stücke entwickeln sich in Jahren der Aufführungen und Diskussionen weiter – sie werden kollektive Erfindungen, die viel vom Charakter jeder Dorfversammlung behalten.

Entwicklungshilfeorganisationen unterstützen die Truppe Nyogolon, bitten um Stücke zu Themen wie Aids oder Wassermangel. Nach Europa exportierbar sind die in der Heimat erfolgreichen Stücke des „theatre utile“ kaum – wie Nyogolon haben viele Gruppen ein zweites „Repertoire“, das auf europäische Normen Rücksicht nimmt. Denn wer sich in Bamako einen Namen machen oder gar international berühmt werden will, erzählt Dembélé, muß mit dem französischen Kulturinstitut zusammenarbeiten und französischsprache Stücke aufführen. Damit sei man gezwungen, die Konditionen und Normen des Westens zu akzeptieren. Auch deshalb, meint der Regisseur, habe die afrikanische Kunst bislang immer unter Preis verkauft werden müssen.

Einladung zum Ausverkauf

Nicht nur die Künstler träumen vom fast mythischen Reichtum des Nordens. Henriette Diabaté, ivorische Kulturministerin und in der Organisation des MASA stark engagiert, bot der internationalen „Käuferschar“ in ihrer Eröffnungsrede des MASA die Kultur als letzten exportierbaren Rohstoff des Kontinents an. Viel zu lange, so ihre Überzeugung, habe der Kontinent die Kultur als Devisenquelle vernachlässigt. Ein Musterbeispiel: die Elfenbeinküste. Das ehemalige westafrikanische Wirtschaftswunderland lebte vom Export der Rohstoffe Kaffee, Kakao und Tropenholz. Durch den Preissturz auf den Weltmärkten befindet sich das Land seit den achtziger Jahren in einer tiefen Wirtschaftskrise — das Tropenholz ist fast abgeholzt. Jetzt soll die Kultur dran sein.

Die anwesenden Kulturmanager nahmen Diabetés Einladung zum Ausverkauf aber nicht an. An round-tables entwickelten sie Produkte und Visionen, um eine „Kulturindustrie“ in Afrika selbst auf den Weg zu bringen. Und auch die afrikanischen Künstler und Produzenten nahmen die Dinge in die Hand: Vertreter verschiedener Künstlergewerkschaften trafen sich, um ihre Rechte künftig auf panafrikanischer Ebene zu erkämpfen. Zusammen mit Festivalveranstaltern und Plattenproduzenten gründeten sie die „Transafricaine des arts“. Ziel der Institution mit künftigem Sitz in Bamako: panafrikanischer Kulturaustausch.

Für die Gruppe Ki Yi M'Bock ist das keine Zukunftsmusik. Gegenüber einer Tankstelle im Stadtteil Riviera in Abidjan, vorbei an einem Gewühl aus Taxen und Marktbuden, führt der Weg in die „Village Ki Yi“. Hinter den bunt bemalten Mauern verbirgt sich ein in Westafrika einzigartiges Projekt: 1985 gründete die Choreographin Wéré Wéré Liking aus Kamerun hier ohne jede staatliche Unterstützung ein Kultur- und Ausbildungszentrum. „Wer in Afrika wartet, wartet lange“, erklärt sie schlicht ihre Initiative, den in Afrika ungewöhnlichen Anspruch auf professionelles Künstlertum in die Realität umzusetzen. In einer Mischung aus Kreuzberger Kiez und afrikanischem Dorf leben und arbeiten achtzig KünstlerInnen und Kinder als Kommune und Kollektiv zusammen. Anfangs bestand das Publikum der Gruppe aus einem einzigen treuen Pärchen – mittlerweile ist sie international bekannt.

Kolonisation im Kopf

Ein anderes Bild vom schwarzen Kontinent um die Welt zu bringen, gehört zu den Zielen der Truppe: „Es gibt andere Realitäten als Putsch und Hunger und Aids“, sagt Wéré Wéré Liking. Aus acht afrikanischen Nationen und zwölf Ethnien kommen die KünstlerInnen, die hier zwölf bis fünfzehn Stunden am Tag arbeiten. „Wir haben die Grenzen der Kolonisation noch im Kopf“, erklärt der Schauspieler und Musiker Bassa Bobou Aboubaka, „wenn die Afrikaner sich nicht endlich kennenlernen, werden die Spannungen nicht aufhören.“ Mit der Oper „Ein Tuareg heiratet eine Pygmäin“ brach die Gruppe zu einer ihrer vielen musikalisch- poetischen Entdeckungsreisen in die Kultur des eigenen Kontinents auf. Gesänge in den afrikanischen Landessprachen, Trommeln und Flöten, Kostüme, Masken und Marionetten zeigen ein modernes Bild vom kulturellen Reichtum Afrikas. Die MASA-Besucher ließen sich im französischen Kulturzentrum mit auf die Reise nehmen – Einladungen zu Festivals in Hamburg, Japan, Dänemark und Italien stehen für die Gruppe jetzt an.

Den Kontinent, den mancher schon in der Dauerkrise sieht, durchweht der frische Wind der zweiten Demokratisierungswelle. Afrika pulsiert in Aufbruchstimmung, Projekte und Initiativen blühen an allen Orten. MASA 1993 hat weiteren Auftrieb gegeben – es wird die Zeit vor und nach diesem Stichdatum geben.