Filmfestspiele in Cannes
: Laß uns Engel schießen

■ W. Wenders „In weiter Ferne, so nah“

Cassiel hieß der von Otto Sander gespielte Engel. Am Ende von „Himmel über Berlin“ stand er etwas verloren auf der Siegessäule, während Kollege Damiel (Bruno Ganz) ausgerechnet um der ziemlich erdenschweren Trapezkünstlerin Marion (Solveig Dommartin) willen „Mensch“ geworden war. „Fortsetzung folgt“, versprach eine Einblendung. Jetzt, sechs Jahre später, beschwört Wenders im Presseheft: Man habe die Einblendung damals gar nicht ernstgemeint. Aber dann fiel die Mauer! Dieses an sich begrüßenswerte Ereignis hatte, wie wir heute wissen, auch ein paar unerquickliche Konsequenzen. Eine davon ist „In weiter Ferne, so nah“.

Oh Gott, tu's nicht! Wenn das deine Engel sind, dann tret' ich aus der Kirche aus. Das ist ja nicht auszuhalten! Ich mein', was so Engel sind, die haben doch auch eine Verantwortung. Kriegen die denn keine Ausbildung? Die denken, sie trösten die Sterbenden, wenn sie sie in die Arme nehmen, aber ich weiß genau, es ist umgekehrt. Die sterben an den Engeln. eine kleine Beweisaufnahme: „Frauen sind Menschen, sie tragen das menschliche Licht“ — „Time is timeless“ — „Wir sind nicht die Botschaft, wir sind die Boten, die Botschaft ist die Liebe“ — „Erobert euch den liebevollen Blick, dann sind wir euch nah, und wir ihm“. Das ist kein schöner Tod! Der dauert zwei Stunden fünfundvierzig.

Aber sind das überhaupt Engel? Genau! Das sind Böcke! „In weiter Ferne, so nah“ (daß es wehtut): So tönt also anschwellender Bocksgesang. Schwell, anschwellender, geschwollenst. Was ist nur mit diesen Handkes, Straußens, Wenders', warum altern diese Herren so schlecht? – Ja, als der Wim noch ein Wim war: „Der Himmel über Berlin“ war inklusive all seiner Schwächen und kleinen Peinlichkeiten noch authentisches Dokument eines heute versunkenen Berlins. „In weiter Ferne, so nah“ krankt dagegen an den gleichen Symptomen wie schon Wenders' letzter Film „Bis ans Ende der Welt“. Hier wie dort ein Stückwerk aus holprigem Plot, ideologischen Leitsätzen, einer abscheulich falschen Naivität, schlechtem Spiel, politisch korrekten, aktuellen Anspielungen, guest appearances (diesmal: Rühmann, Nastassja Kinski, Gorbatschow, Lou Reed u.a.), exquisit oberflächlichen Bildern, Insider-jokes und Phrasen, Phrasen, Phrasen, die kein Zuckerfabrikant aufs Einwickelpapier drucken würde. Wenders hat nicht mehr wie einst die Geduld, Bilder festzuhalten, bis etwas passiert oder gerade nicht passiert. Früher handelten seine Filme noch von seiner Schwierigkeit, Geschichten zu erzählen, heute legt Wenders sie nur noch an den Tag.

Cassiel wird also Mensch in dem ortlosen, beliebigen Berlin dieses Films. Aber er ist zu gut für die Menschen. Sie schießen ihn tot. Gleich darauf wacht er wieder auf, als Engel, in den Armen der Kollegin Nastassja Kinski. Engel haben demnach eine Arbeitsplatzgarantie. Die werden wir nie los. Thierry Chervel