Die atomare Sprengkraft der Armut

Erstmals tagt die internationale Ärztevereinigung gegen den Atomkrieg in einem Land der Dritten Welt und fordert: Die „Bombe Armut“ muß entschärft werden!  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

Nicht nur die Atomwaffen sollten vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag verurteilt werden, sondern auch der „mörderische Schuldenkrieg des Nordens gegen den Süden“. Diese Anregung der spanischen Ärztin Aurora Bilbao, bislang europäische Vizepräsidentin der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) ist zwar noch kein offizieller Konsens der renommierten Medizinervereinigung, aber sie weist auf einen möglichen Paradigmenwechsel für die neunziger Jahre hin. Thema sollen nicht mehr nur die nukleare Gefahr sein, sondern auch die über 50 derzeit schwelenden Kriege, die sich nach dem vielbeschworenen Ende des Ost-West-Konflikts vor allem im Süden aus der immer krasser werdenden Armuts- und Schuldenfalle rekrutieren.

Zum ersten Mal in ihrem 13jährigen Bestehen tagte die internationale Ärzteorganisation in einem Land der Dritten Welt: In Mexiko- Stadt ging am vergangenen Sonntag ihr 11. Weltkongreß zu Ende, zu dem sich 1.500 der 200.000 IPPNW-Mitglieder drei Tage lang versammelt hatten. Schon der mexikanische Gastgeber hat, zumindest auf den ersten Blick, nicht die nuklearen Probleme von vielen seiner Gäste aus 70 Ländern. Auf mexikanische Initiative waren 1967 Lateinamerika und die Karibik zur atomwaffenfreien Zone erklärt worden.

Manuel Velasco-Suárez, Gründer und Präsident der mexikanischen IPPNW-Ablegers wies aber darauf hin, „daß wir nicht wissen, ob an unseren Küsten nicht doch Atom-U-Boote herumschippern.“ Außerdem, so der bekannte Nervenspezialist, ginge es längst nicht mehr nur um die Verhütung der mit Waffen geführten Kriege, sondern auch um die „drohenden Wirtschaftskriege“.

Was der mexikanischen Chairman noch eher diplomatisch formuliert, kommt andernorts um einiges deutlicher zur Sprache. Im feudalen Sitzungssaal der Medizinischen Akademie stellen die Vertreter des im vergangenen Jahr gegründeten Nord-Süd-Arbeitskreises der deutschen IPPNW-Sektion ihre These von „der weltweit wachsenden sozialen Kluft“ als Ausdruck vom „Wahnsinn des Nordens“ und der „Bombe des Südens“ in den vollbesetzten Raum. Die Schuldenbombe habe bislang „mehr Menschen umgebracht“ als alle „heißen Kriege“ zusammen. Das bedeutet kein Abrücken vom traditionellen IPPNW-Leitmotiv der Kriegsverhütung, erläutert ihr Mitbegründer Christoph Krämer, sondern vielmehr dessen Umdeutung: Um Kriegen tatsächlich vorbeugen zu können, müssen die friedliebenden ÄrtzInnen sich endlich verstärkt den weltwirtschaftlichen Verstrickungen und sozioökonomischen Ursachen für Militarismus und Gewalt zuwenden. Hatte man bisher zutreffend festgestellt, daß Militarisierung zu Verschuldung führt, so müsse jetzt – so Krämer – auch umgekehrt begriffen werden, daß „Schulden Krieg erzeugen“. Zuvor hatte schon Susan George, Buchautorin („The Debt Boomerang“) und Expertin für Entwicklungsfragen, den ÄrztInnen empfohlen, „die Schuldenbombe endlich als eine der Atombombe vergleichbare Bedrohung wahrzunehmen und zu ächten“: Eine halbe Million Kinder würde jährlich an den Folgen des gigantischen als Schuldendienst verkleideten Ressourcentransfers von Süd nach Nord sterben.

Allerdings ließ sich nicht in allen zentralen Fragen über die Grenzen von Ländern und Selbstverständnis hinweg ein Konsens erzielen. So besteht keineswegs Einigkeit über die friedliche Nutzung der Kernphysik. Während der Standpunkt der deutschen IPPNW- Tochter auf die kurze Formel „Abschalten-Abrüsten“ zu bringen ist, winkt der mexikanische Kongreßpräsident Velasco bei Nachfrage ab: Das sei doch „ein ganz anderes“ Thema, die IPPNW könne sich ja „nicht um alles“ kümmern. Zu erklären ist dies mit der für deutsche Verhältnisse erstaunlichen Regierungsnähe der mexikanischen FriedensmedizinerInnen: diese würden von der Regierung, so Velasco stolz, „voll unterstützt“ – und die hat nun mal erst vor ein paar Jahren ihr erstes Atomkraftwerk ans Netz gehen lassen.

Aber auch das „klassische Thema“ der antimilitaristischen ÄrztInnen bleibt weiterhin brisant: selbst nach der Umsetzung aller bislang verabredeten Abrüstungsschritte, so die jüngste Studie der IPPNW, wird noch in zehn Jahren die Sprengkraft des aktivierbaren Atomwaffenarsenals in der Welt die Zerstörungskraft von 200.000 Hiroshima-Bomben übersteigen. Und auch ohne Kalten Krieg dreht sich die Rüstungsspirale weiter, allein dieses Jahr werden die USA rund 57 Milliarden DM für ihr Kernwaffenprogramm ausgeben. Bislang scheint das auch nicht weiter verwerflich: im Unterschied zu biologischen und chemischen sind atomare Waffen international bislang nicht geächtet. Große Hoffnungen setzt die Ärzteorganisation deshalb auf eine Klage beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag, der die Illegalität von Atomwaffen feststellen und dessen Besitzer nach völkerrechtlichen Kriterien verurteilen soll.