Zwischen Georgien und Rußland

Jahrzehntelang setzten sich die muslimischen Abchasen gegen die Großmachtpolitik Rußlands und den georgischen Nationalismus zur Wehr  ■ Von Erhard Stölting

Über den georgisch-abchasischen Konflikt wird die Öffentlichkeit seit gut einem Jahr – seit dem Einmarsch georgischer Truppen in der abchasischen Hauptstadt Suchumi – informiert. Tatsächlich jedoch wird dieser „Konflikt“ seit den späten achtziger Jahren immer gewalttätiger ausgetragen. Angesichts des akkumulierten Hasses erscheint ein späteres friedliches Zusammenleben inzwischen kaum noch denkbar.

Daß die Abchasen bei ihrem geringen Bevölkerungsanteil überhaupt Abchasien beanspruchen, erscheint auf den ersten Blick keck. Zusammengenommen würden sie kaum eine kleine Großstadt füllen: 1989 lebten in der UdSSR 105.308 Abchasen. In Abchasien selbst waren die Abchasier mit 18 Prozent der Bevölkerung zweitgrößte Minderheit nach den Georgiern mit 47 Prozent. Die übrigen größeren Minderheiten bestanden aus Russen, Armeniern, Aserbaidschanern.

Aber die Abchasen waren nicht immer eine Minderheit, und sie haben ihre eigene Geschichte, die sich mit der Georgiens überschneidet. Im sechsten Jahrhundert wurde Abchasien von Byzanz aus christianisiert, im 9. Jahrhundert wurde es unabhängiges Königreich, dieses wiederum 978 mit Georgien vereinigt. Im 16. Jahrhundert geriet es mit Westgeorgien unter osmanische Herrschaft. Die Mehrheit der Abchasen trat zum Islam über. Wie ganz Transkaukasien wurde auch Abchasien Anfang des 19. Jahrhunderts von Rußland annektiert. Gemeinsam mit den muslimischen Völkern des Kaukasus setzten sich die Abchasen jahrzehntelang gegen die russische Herrschaft zur Wehr, Unzählige wanderten ins Osmanische Reich aus. Rußland war diese Auswanderung recht. Überall in Transkaukasien strebte es an, durch gezielte Siedlungspolitik christliche Mehrheiten zu schaffen. Die Abchasen wurden zur Minderheit im eigenen Land. Es gab Anlaß zu antirussischem Groll.

Aber die Furcht vor einem georgischen Nationalstaat war noch größer. Die georgische Nationalbewegung war, wie fast alle Nationalbewegungen, unfähig, ethnische Mischungen zu akzeptieren. So mußte den Abchasen das übernationale Großreich Rußland als das geringere Übel erscheinen. Die Reaktion darauf war üblicherweise verstärkte Repression, und die trieb die kleineren erst recht auf die andere Seite.

Selbst die ansonsten gemäßigten georgischen Menschewiki nutzten den Nationalismus zur politischen Mobilisierung der Bevölkerung. Die wegen ihrer Entrechtung aufgebrachten Minderheiten tendierten entsprechend zu den Bolschewiki. Als Georgien 1921 seine Unabhängigkeit verlor, erhielt Abchasien seine wenigstens formelle sowjetische Souveränität.

Mit dem Aufstieg des Georgiers Stalin wendete sich das Blatt. 1931 wurde Abchasien zu einer „Autonomen Republik“ unter georgischer Herrschaft zurückgestuft. Stalin unterstützte seit Beginn der dreißiger Jahre die rigorose Georgisierungspolitik des damaligen georgischen Parteichefs Lawrentij Beria, der Ende der dreißiger Jahre zum berüchtigten Chef der sowjetischen Geheimpolizei aufsteigen sollte.

Nach Stalins Tod kam es zu einer erneuten Wende. Die Minderheiten Georgiens erhielten in ihren Siedlungsgebieten wieder Sonderrechte und Quoten. Nicht ganz zu Unrecht sahen die georgischen Nationalisten hinter dieser Politik eine Russifizierungsstrategie. Die Minderheiten wurden – bis heute – als verlängerter Arm Moskaus angesehen. Tatsächlich war die verbreitetste Zweitsprache unter den Abchasen nicht das Georgische, sondern das Russische.

Der gegenwärtige Konflikt setzte Ende der siebziger Jahre ein und enthielt alle Elemente, die sich noch heute finden. Im Dezember 1977 beklagten sich 130 abchasische Intellektuelle beim ZK der KPdSU über Diskriminierung und forderten den Anschluß Abchasiens an die russische Republik. 1978 kam es zur Demonstration und ersten Schießereien in Suchumi, georgische Inschriften und Monumente wurden zerstört. Moskau setzte nun einige Kompromisse durch. Das Pädagogische Institut Suchumi wurde zur Abchasischen Staatsuniversität; Quoten sollten den Anteil von abchasischen Studenten erhöhen. Die georgische Regierung versprach Investitionen. Sei es, daß die Konzessionen zu spät kamen, sei es, daß sie einen weitergehenden Appetit geweckt hatten, die abchasischen Forderungen zielten nun auf einen souveränen Nationalstaat.

Georgische Historiker waren seit den fünfziger Jahren davon ausgegangen, daß die ethnischen Minderheiten „ganz neu“ im Lande seien: die Osseten etwa seit hundert, die Abchasen seit dreihundert Jahren. Als Zugvögel hätten sie kein dauerhaftes Bleiberecht. Ihre Duldung sei an ihr Wohlverhalten als fügsame Fremde gebunden. Staatliche Politik wurde diese Position im Zuge des neuen Kampfes für die Unabhängigkeit Georgiens. Den Kampf gegen Moskau und den gegen seine Helfershelfer im Lande sahen die Georgier als zwei Seiten einer Medaille. Der Versuch der Abchasen, ihr Gebiet loszulösen, wurde mit der Aufhebung aller Autonomierechte beantwortet.

Es standen sich nun zwei Befreiungskonzepte gegenüber. Ein Frieden hätte in dieser Situation politische Klugheit und Kompromißfähigkeit vorausgesetzt. Aber Volks- und andere Befreiungsbewegungen zeichnen sich in der Regel eher durch heroischen Opfermut aus. Der Radikalismus des ersten frei gewählten Präsidenten Georgiens, Swiad Gamsachurdia, hätte allein ausgereicht, das Land mit dem Geruch verbrannten Fleisches zu füllen. Aber die abchasische Bewegung war nicht weniger entschlossen. Als Gamsachurdia gestürzt wurde, war der Heroismus der feindlichen Milizen nicht mehr kontrollierbar. In einer solchen Situation konnte nicht einmal mehr Schewardnadse, der eher zu den Füchsen als zu den Hyänen gehört, etwas ausrichten.

Die Rolle Rußlands blieb doppeldeutig. Die Versuchung, zumindest einen Fuß in Abchasien zu behalten, hatte ebenso militärische wie touristische Beweggründe. Es ist jedoch vor allem die Zersetzung der politischen Autorität Rußlands, die die russische Anwesenheit brisant macht. Denn was die Armeeführung will, wird auf unterer Ebene nicht unbedingt berücksichtigt. Für die russischen Militärs in und um Abchasien war die Versuchung, die freundlichen Abchasier gegen die feindlichen Georgier zu unterstützen, so plausibel, daß die georgischen Beschwerden über eine militärische Hilfe an die abchasischen Rebellen nur allzu berechtigt erschienen.