Per Fingerzeig an die Spitze Mexikos

Mit neuem Staatsnamen und „sauberen Wahlen“ will die PRI ins nächste Jahr. Zunächst sieht es jedoch nach Kontinuität alter Rituale aus: Der scheidende Präsident bestimmt einen Freund zum Nachfolgekandidaten  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

Das beliebte nationale Ratespiel, das unter dem Motto „Wie heißt der nächste?“ alle sechs Jahre Mexiko beschäftigt, war dieses Mal überraschend früh zu Ende: Luis Donaldo Colosio ist seit Ende November der neue Kandidat der regierenden „Partei der Institutionalisierten Revolution“ (PRI) für die im August 1994 anstehenden Präsidentschaftswahlen. Wie das Land, dem Colosio vorstehen will, jedoch heißen soll, ist unklar. Denn die PRI hat in der vergangenen Woche beantragt, die „Vereinigten Mexikanischen Staaten“ in Zukunft durch ein schlichtes „Mexiko“ zu ersetzen. Damit soll im Verbund mit den anderen Unterzeichnern des „Nordamerikanischen Freihandelsabkommens“ (Nafta) jede mögliche Verwechslung mit den Vereinigten Staaten von Amerika ausgeschlossen werden.

Der Antrag der PRI-Abgeordneten kam zwei Wochen nach der Nafta-Ratifizierung in den USA, die in Mexiko mit großer Erleichterung aufgenommenen worden war. Sollte die Namensänderung durchkommen, steht als nächstes die kostspielige Änderung jeder Banknote und Münze und jeden offiziellen Dokumentes an. Die PRI will sich jedoch Zeit lassen. Zwischen dem 1. Januar 1994, wenn das Nafta-Abkommen in Kraft tritt, und dem 1. April, wenn das mexikanische Parlament über die Namensänderung abstimmen soll, will die Regierung einen landesweiten Werbefeldzug für „Mexiko“ starten.

Bislang ist der skurrile Vorstoß im Land auf wenig Verständnis gestoßen. Oppositionelle Abgeordnete interpretierten ihn als allzu devote Geste gegenüber dem Norden. Dahinter vermuten sie den Versuch, das föderalistische Prinzip abzuschaffen. Und sie weisen besorgt darauf hin, daß die Namensänderung das Vorspiel für einen späteren Anschluß als „frei assoziierter Staat“ – à la Puerto Rico – an die USA sein könnte. Die Bevölkerung schwankt nach ersten Umfragen zwischen Sympathie für die „Vereinfachung“ und Empörung über den „Angriff auf die nationale Identität“.

Die mögliche Umbenennung des Staates wäre jedoch nicht viel mehr als ein Etikettenwechsel. Denn alle anderen politischen Zeichen weisen auf Kontinuität – ganz besonders die Person des PRI-Präsidentschaftskandidaten Colosio. Die Kandidatur des 43jährigen bisherigen Sozialministers kam aller Demokratisierungsrhetorik zum Trotz wieder nach traditionellem Ritual zustande: per dedazo, dem berühmten Fingerzeig, bestimmte der scheidende Präsident seinen Nachfolger aus einem erlauchten Kreis von Anwärtern. Mit dem dedazo steht für die meisten Beobachter das künftige Staatsoberhaupt Mexikos automatisch fest. Die theoretisch zwischengeschalteten Wahlen entbehren bei weiten Teilen der Bevölkerung jeder Glaubwürdigkeit. Zwar gewinnt die seit über sechs Jahrzehnten regierende PRI nicht immer so 99prozentig wie die Parteien der benachbarten Karibikinsel. Aber die mexikanische Demokratie erscheint dennoch den meisten „als zynischer Witz“, wie die New York Times notiert. So kam nach Ansicht unabhängiger Beobachter auch der amtierende Präsident Salinas de Gortari 1988 nur über massive Wahlfälschung an seine ausgesprochen knappe Mehrheit. „Computersysteme stürzten ab, Wahlurnen verschwanden“, erinnert sich das US-Blatt. Besonders delikat: Koordinator jener „übelriechenden“ Wahlkampagne vor sechs Jahren war kein geringerer als der jetzige Kandidat Luis Donaldo Colosio.

Der Eintritt Mexikos in die moderne Glitzerwelt von Freihandel und Demokratieversprechen wird nicht unbedingt das Wahlprocedere ändern. Allen Modernisierungsverheißungen zum Trotz treibt die mexikanische Politiklandschaft immer noch seltsame Blüten. So versprach der Vorsitzende der staatstreuen CTM-Gewerkschaft, Fidel Velázquez – der fast ebenso viele Jahrzehnte in seinem Amt ist wie die PRI an der Macht –, dem PRI-Kandidaten, noch bevor der überhaupt feststand, schon mal die einstimmige Unterstützung seines Gefolges: mit deren rund zwanzig Millionen Stimmen könne der Kandidat sicher rechnen, „die Ehefrauen eingeschlossen“.

Der Direktor der Außenhandelsbank, José Angel Gurria, versicherte vor japanischen Investoren, daß es „mit Colosio 24 Jahre Kontinuität“ geben werde, da „sein Nachfolger im Jahre 2000 sicher aus demselben Salinas-Kabinett stammen wird“.

Tatsächlich gilt der Salinas-Vertraute Colosio als Garant für die Fortsetzung des Politmix aus Liberalisierung und sozialpopulistischer Abfederung.

Der scharfzüngige Oppositionsführer Muñoz Ledo hatte den frischgekürten Kandidaten prompt als „mentale Wiederwahl“ von Präsident Salinas bezeichnet. Eine zweite Amtsperiode ist bislang per Verfassung ausgeschlossen.

Zum ersten Mal aber, so der Sprecher der linken PRD, Marco Rascón, werde die „goldene Stabilitätsregel“ gebrochen. Nach dieser „Stabilitätsregel“ steht mit dem Ende eines Sexenios, wie die sechsjährige Präsidentschaft genannt wird, auch der gesamte Machtapparat zur Disposition. Rascón vergleicht die Entscheidung für Colosio mit dem letzten Wiederwahlversuch des mexikanischen Diktators Porfirio Diaz zu Anfang des Jahrhunderts: die Salinas-Gruppe will „um jeden Preis“ an der Macht bleiben – bis weit ins nächste Jahrtausend hinein.

Dazu aber muß das angeschlagene Image des politischen Systems verbessert werden: Vor knapp einem Monat schlug Präsident Salinas deshalb einen „Pakt der Zivilität“ als Dialogangebot an alle Parteien vor. Radikale Kritiker lehnten das als Leerformel ab. Ihr Argument: Nicht extra legale Vereinbarungen, sondern nur die strikte, notfalls auch ausländisch überwachte Einhaltung der soeben halbherzig reformierten Wahlgesetze können die Legitimität des politischen Systems wiederherstellen. Ausländische Wahlbeobachter schloß der PRI-Kandidat Colosio allerdings von vornherein aus: diese seien „verfassungswidrig“.

Dennoch sind „saubere Wahlen“ der wichtigste Slogan der eben anlaufenden Kampagne für die 94er „Jahrhundertwahlen“ – nicht nur für die beiden links- und rechtsliberalen Oppositionsparteien. Daneben steht das handelspolitische Schicksal des Landes als kleinster Nafta-Partner sowie die wirtschafts- und bildungspolitischen Weichenstellungen im Zentrum des politischen Streits.

Wie schon vor sechs Jahren fordert auch diesmal wieder der ehemalige PRI-Dissident und Sohn des legendären mexikanischen Präsidenten Lazaro Cárdenas (1934–1940), Cuauhtémoc Cárdenas, die PRI-Hegemonie von links heraus. Seine „Partei der Demokratischen Revolution“ (PRD) – im bewußten Gegensatz zur Institutionalisierten Revolution der PRI – hatte sich erst vor wenigen Jahren aus der weitgestreuten Oppositionsbewegung der 88er Wahlen formiert. Der Partei mangelt es allerdings bis heute an einer Programmatik, die über die scharfe Kritik am neoliberalen Regierungskurs hinaus reale Alternativen bietet.

Die Dritte im Bunde ist die unternehmerfreundliche „Partei der Nationalen Aktion“ (PAN) mit ihrem Kandidaten Diego Fernández de Cevallos. Diese gilt als die aussichtsreichere Opposition im Lande und sogar – wegen ihres aktuellen Schmusekurses mit der Regierung – als mögliche Bündnispartnerin einer neuen PRI-Regierung. Im Unterschied zur PRD, die das Nafta-Projekt als „Ausverkauf der nationalen Souveränität“ verurteilt hatte, unterstützt die PAN die Freihandelslinie von Präsident Salinas fast vorbehaltlos. Der einzige gemeinsame Nenner der beiden Oppositionsparteien dürfte die zumindest rhetorische Gegnerschaft zum „PRI-Autoritarismus“ sein.

Bei allem Mißtrauen gegen die Regierungspartei, einen Bonus genießt der ansonsten wenig charismatische Luis Donaldo Colosio bei der Bevölkerung: als Sozialminister hat er seit eineinhalb Jahren das „Nationale Programm der Solidarität“ unter seinen Fittichen, das 1989 von Salinas aus der Taufe gehoben wurde. Als eine Art interner Entwicklungshilfe werden unter dem Banner der „Solidarität“ beachtliche Summen in die soziale Infrastruktur – Schulen, Krankenhäuser, Ausbildungszentrum Bildung – vor allem in den lange vernachlässigten ländlichen Regionen vorgenommen. Gefördert werden außerdem die Bildung von Genossenschaften und die Gründung von Kleinstunternehmen. Selbst Leute, die das Solidaritätsprojekt als geschickt getarnten Stimmenfang kritisieren, können nicht umhin, seine Breitenwirkung anzuerkennen.

Für Überraschung sorgte dann auch weniger das Votum für Colosio als vielmehr der unmittelbar folgende Rücktritt eines seiner schärfsten Konkurrenten, des Bürgermeisters von Mexiko-Stadt, Manuel Camacho Solis. Bei der linksliberalen Opposition galt der „intellektuelle Populist“ als einziger Kandidat, der ein politisches Projekt vorzuweisen hatte. Sein Leitmotiv: „Demokratie bedeutet Risiko“. Camacho war 1988 nach den letzten Präsidentschaftswahlen die undankbare Aufgabe übertragen worden, die Metropole politisch „zurückzuerobern“ – wäre die Zwanzig-Millionen-Stadt ein eigener Bundesstaat, hätte die PRI diesen damals an die Cárdenas- Partei verloren. Mit einer vorsichtigen Politik des Dialogs verhinderte Camacho zumindest den sozialen und ökologischen Kollaps der größten Stadt der Welt.

Zwar ist der liberale Stadtregent inzwischen zum Außenminister aufgestiegen – doch nach Einschätzung von Experten gilt Camacho als kaltgestellt in der mexikanischen Politiklandschaft. Dagegen ist davon auszugehen, daß der zweite Verlierer im Rennen um die Kandidatur, der derzeitige Finanzminister Pedro Aspe, bei dem erwarteten PRI-Sieg weitere sechs Jahre im Amt bleiben wird. Aspe steht, quasi als ideale Ergänzung zum profilierten Sozialpolitiker Colosio, vor allem für die Fortsetzung des Mitte der achtziger Jahre eingeschlagenen Privatisierungs- und Liberalisierungskurses. Der ansonsten eher unpopuläre Wirtschaftstechnokrat war eindeutiger Wunschkandidat der im „Rat der Geschäftsmänner“ organisierten Unternehmerelite des Landes. Aber auch Luis Donaldo Colosio wird kaum an den „Geschäftsmännern“ vorbeiregieren können, die handfeste Erwartungen an den künftigen Regierungschef haben. Off the record hatte Carlos Slim, einer der milliardenschweren Newcomer Mexikos, vor Journalisten angedeutet, daß es durchaus noch privatisierungsbedürftige Anlagen gäbe: die Elektrizitätswerke und der staatliche Ölkomplex PEMEX – beides bislang als unverkäuflich geltende Wahrzeichen nationaler Souveränität.

In diesem Licht betrachtet, gibt die Initiative zur Umbenennung des Landes möglicherweise doch einen tieferen Sinn: Statt der verdächtig US-nahen Formulierung von den „Vereinigten Staaten ...“ würde mit einem ebenso unbestimmten wie volksnahen „Mexiko“ symbolisch nationale Identität betont – während gleichzeitig die ökonomische Identität des Landes immer stärker zum Spielball grenzüberschreitender Kapitalinteressen wird.