Ungeachtet der am Sonntag vom mexikanischen Präsidenten Salinas versprochenen Amnestie geht die Jagd nach aufständischen Zapatisten in Chiapas weiter. Das grausame Vorgehen der Armee ist kein Thema. Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

„Lieber im Kampf sterben als an der Cholera“

Bis zum Wochenende war lediglich von einer „möglichen Begnadigung“ die Rede gewesen, am Sonntag morgen Ortszeit dann verkündete Mexikos Präsident Salinas de Gortari in einer Fernsehansprache eine Generalamnestie für „all diejenigen, die an dem bewaffneten Aufstand in Chiapas teilgenommen haben, und zwar zwischen dem 1. Januar und dem heutigen 16. Januar, 11 Uhr“. In einer außerordentlichen Parlamentssitzung solle das Gesetz „so schnell wie möglich“ verabschiedet werden. Ferner kündigte der Präsident an, seine Regierung werde „in Kürze“ ein Programm auflegen, um die ärgste Not im südmexikanischen Chiapas zu lindern.

Überraschend erscheint vielen Beobachtern nicht das Amnestieangebot an sich, sondern die Tatsache, daß es bis auf die äußerst präzise zeitliche Begrenzung ohne jegliche Bedingungen formuliert ist. Dem relativ allgemein gehaltenen Text ist im übrigen nicht genau zu entnehmen, ob Salinas Initiative sich nur auf die Aufständischen der zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) bezieht oder möglicherweise auch Angehörige der Streitkräfte einschließt. Schließlich hat der Präsident bislang kein Wort über die der mexikanischen Armee angelasteten Menschenrechtsverletzungen verloren; unabhängige mexikanische Menschenrechtsorganisationen und Vertreter von „amnesty international“ hatten am Wochenende das „grausame Vorgehen“ von Armeeangehörigen angeprangert, die Gefangene willkürlich mißhandelt und hingerichtet haben sollen.

Eine offizielle Antwort der EZLN auf die neue, nichtmilitärische Regierungsoffensive steht zur Stunde zwar noch aus. Dennoch gibt es erste Anzeichen für eine baldige Reaktion aus der Kommandozentrale der Guerilla. Dies kündigte ein EZLN-Führer namens „Major Mario“ gegenüber einer Gruppe von Journalisten an, der es am Wochenende gelungen war, zu einem EZLN-Stützpunkt „irgendwo im Lacandonischen Regenwald“ vorzudringen. Dabei versicherte der junge bewaffnete Indianer den Medienvertretern: „Wir respektieren die Feuerpause, wir werden die Regierungstruppen nicht angreifen.“ Solange allerdings die wichtigsten Forderungen der indianischen Guerilla – Land für die Campesinos, Demokratie, saubere Wahlen, Wohnungen, medizinische Versorgung, Arbeit, ausreichende Nahrung und Bildung – nicht erfüllt seien, so der Guerillero, „werden wir den Krieg fortführen“. Die Indianer Chiapas zögen es vor, „lieber im Kampf zu sterben, als an Cholera oder an der Unterdrückung durch Großgrundbesitzer“. Allein 1993 starben „Major Marios“ Angaben zufolge in Chiapas 15.000 Menschen an Krankheiten, die alle heilbar gewesen seien.

Auf die Frage, ob die EZLN für die Bombenattentate in der Hauptstadt und in anderen Städten des Landes verantwortlich sei, antwortete „Mario“ mit einem entschiedenen Nein. „Wir wissen ganz genau, wer unser Feind ist. Wir greifen keine Zivilpersonen an, denn sie trifft keine Schuld an diesem Krieg. Wir sind keine Terroristen, sondern beachten das Kriegsrecht, erfüllen die Genfer Konventionen.“

Ob, wann und unter welchen Bedingungen die EZLN mit der Regierung in Verhandlungen treten wird, ist noch unklar. Erste Kontakte mit der EZLN konnten Gerüchten zufolge zwar aufgenommen werden, Genaueres aber wollte „Friedensemissär“ Manuel Camacho Solis, der am Freitag aus dem Krisengebiet zurückkehrte, bislang nicht preisgeben. Bischof Samuel Ruiz, der nicht erst seit Beginn der Revolte, sondern bereits seit über dreißig Jahren mit den Problemen der indianischen Bevölkerung vertraut ist, wurde inzwischen endlich auch formal als Vermittler zwischen Regierung und Aufständischen anerkannt. Schwierig könnte es allerdings schon mit der ersten Forderung der Zapatisten nach Anerkennung als „kriegführende Partei“ werden. Genau dies schließen Sprecher des Verteidigungsministeriums bisher kategorisch aus. Schließlich vertrete die EZLN „keinen Staat oder Nation“ und habe auch „keinen Oberbefehlshaber“.

Ob die Waffen in Chiapas zur Zeit schweigen, darüber besteht noch Unklarheit. Zwar scheinen die Bombardements seit Donnerstag tatsächlich eingestellt, dennoch melden JournalistInnen vor Ort immer wieder Feuergefechte, etwa am Freitag bei San Miguel, Truppenbewegungen und, wie in Altamirano, einen faktischen „Ausnahmezustand“. Offenbar hat die Armee auch die Verfolgung der zapatistischen Guerilleros trotz der verordneten einseitigen Feuerpause und der versprochenen Generalamnestie bislang nicht eingestellt. In der Ortschaft Oxchuc wurden am Sonntag acht mutmaßliche Guerilleros festgenommen. Verwirrung besteht auch über Anzahl, Aufenthaltsort und Verfassung der bislang festgenommen Rebellen. Während es nach offiziellen Angaben nur 106 Festnahmen gibt, bat der Direktor eines Gefängnisses in Tuxtla Gutierrez um „Lebensmittel für zweihundert Bauern-Guerilleros, die kurz vor dem Hungertod stehen“. Die Staatsanwaltschaft dagegen erklärte, ihr seien nur vierzig Verhaftete vorgeführt worden.

Nach zwei Wochen bewaffneter Auseinandersetzungen beginnen jetzt die „Aufräumarbeiten“. Im Kreuzfeuer der Kritik steht dabei vor allem die Armee – und mit ihr die politische Führung Mexikos. Denn seit vor wenigen Tagen der militärische Absperrgürtel um die umkämpften und bombardierten Gebiete größtenteils aufgehoben wurde, sind aus den bis dahin „besorgten“ Warnungen nationaler und internationaler Menschenrechtsorganisationen nach und nach dokumentierte Vorwürfe gegen die Armee wegen Verletzung der Menschenrechte geworden.

Daß die Lösung dieses Konflikts größerer Anstrengungen bedarf als kurzfristige Feuerpausen, dürfte trotz der allgemeinen Verhandlungseuphorie inzwischen deutlich sein. Mit leeren Versprechungen werden sich die indianischen Völker in Chiapas jedenfalls nicht abspeisen lassen. An die dreihundert VertreterInnen indianischer Organisationen forderten in einem der von Salinas eingesetzten Spezialkommission übergebenen Dokument den Rückzug der Armee in ihre Quartiere, die Entmilitarisierung des Gebiets und die Verhinderung von Repression gegen indianische Organisationen und Dorfgemeinschaften. Außerdem verlangen sie eine „Neuordnung der Beziehungen“ zwischen der Regierung und den indianischen Völkern. Gemeint sind damit die Schaffung autonomer Regionen, die Rückgabe des Landes, die Erhöhung der für die indianischen Gemeinden bestimmten Sozialausgaben „wenigstens für die nächsten zehn Jahre“ sowie die Beteiligung indianischer Abgeordneter am politischen Geschehen des Landes.