Melancholie des Endes

Nicht ohne eine Melancholie des Endes: Retrospektive der Filme von Patrice Chéreau im „Arsenal“  ■ Von Thierry Chervel

Charlotte Rampling, Edwige Feuillère, Alida Valli, Simone Signoret, Bruno Crémer, François Simon und Hans-Christian Blech in einem Film! Wie kann das sein? „An der Grenze zwischen Horror- und Kriminalfilm angesiedeltes Erstlingswerk, handwerklich noch unbeholfen und blutrünstig, aber leidlich spannend“, schreibt das rororo-Filmlexikon über „Das Fleisch der Orchidee“. Patrice Chéreau hatte die Jahre zuvor am Piccolo Teatro in Mailand verbracht. „Dann wollte ich mit den berühmtesten Schauspielern arbeiten, einfach um mir Angst einzujagen“, erzählt er in einem Interview. 1974 war er dreißig und hatte schon 15 Jahre Theater hinter sich, nun drehte er seinen ersten Film.

Nirgends wurden Charlotte Ramplings Flakscheinwerferaugen besser eingesetzt. Unablässig suchen sie unter trägen Lidern nach einer Möglichkeit der Befreiung. Rampling hat auch spitze Fingernägel. Kommt ihr ein Mann zu nahe, gräbt sie sie ihm in die Augen, schlägt sie blind. Die schauerlichen Schreie der Männer rhythmisieren Chéreaus Film. Seine Angst vor den Stars setzte er um in eine wahren Räuberpistole von romantischem Thriller: eine Parade von schönen Autos, leeren Villen, mysteriösen alten Damen, Regen, Donner und Blitz. Grundlage war ein Roman von James Hadley Chase. Charlotte Rampling spielt eine Millionenerbin, die von der gierigen Verwandtschaft für verrückt erklärt und in Gefangenschaft gehalten wird. Hans-Christian Blech und der hinreißende François Simon richten als alternde, aber hochpräzise Messerwerfer ebenfalls großen Schaden an. Rampling siegt. Am Ende, im Krankenhausbett, noch am Tropf, greift sie zum Telefon. Was sie jetzt will, ist klar: ihr Vermögen verwalten.

Der Film hat etwas Getriebenes, kalt Schwitzendes, fanatisch Vorangetriebenes. Diesen Gestus, eine Art unterkühlte Heftigkeit, die den Selbstzweifel und eine rückhaltlose, wenn auch unsentimentale Anbetung der Schauspieler einschließt, hat er mit Chéreaus anderen Kinowerken und wohl mit seinen Arbeiten überhaupt gemein. Thematisch aber ist Chéreau freier und unberechenbarer als jeder andere Regisseur. Zwei Jahre nach dem „Fleisch der Orchidee“ inszenierte er in Bayreuth den Jahrhundertring, um kurz darauf, 1977, einen Film über die französische Presselandschaft in Angriff zu nehmen.

In „Judith Therpauve“ (1978) setzte er das schönste Denkmal für Simone Signoret – gerade weil sie darin weniger statuarisch wirkt als in ihren anderen späten Rollen. „Judith Therpauve“ spielt in der Zeit des heute vergessenen großen Zeitungssterbens der siebziger Jahre. La libre République, eine große Provinzzeitung, wurde noch von der Résistance gegründet, jetzt kriselt es im Blatt. Judith Therpauve ist Anteilseignerin. Ein paar alte Kameraden tauchen auf – klapprige, hochkultivierte, schöne Greise – und bitten sie, die Leitung des Blattes zu übernehmen. Madame Therpauve haust in ihrer alten Villa wie in einer viel zu großen, staubigen Schatulle. Samstags toben die Enkel durchs Haus und machen ihr auch nicht viel Freude. Also sagt sie zu, übernimmt das Blatt – und scheitert an alerten Chefredakteuren, vernagelten Gewerkschaftlern und einer fiesen Konkurrenz, in der unschwer Hersant, der französische Springer zu erkennen ist.

„Judith Therpauve“ ist kein „engagierter“ Film: Er läßt keine Hoffnung. Chéreau konstatiert das Ende der politischen Kämpfe, das komischerweise bald darauf den Sieg der Sozialisten und ihre Reduktion der Politik auf Inszenierung ermöglichte. Wie ein Einweckglas, viel intensiver als etwa „Das Fleisch der Orchidee“, konserviert der Film die Atmosphäre der siebziger Jahre als einer heute weit entrückten Zeit. Die Zeitungstechnik – Schreibmaschinensäle mit hurtigen Setzerinnen, klappernde Telexe, Rohrpostsysteme: prähistorisch.

Auch Chéreaus beiden anderen Filme, „L'homme blessé“ (1983) und „Hôtel de France“ (1987) lassen sich heute nicht ohne eine Art Melancholie des Endes wiedersehen. Den „Ring“ hatte Chéreau bewußt als „Ende“ des bürgerlichen Zeitalters inszeniert. Liest man die Figur des Endes in seine Filme nur hinein? Oder handelt es sich um das berühmte „Gespür“ des Künstlers? „L'homme blessé“ sieht man heute als letzten Film „vor Aids“, „Hôtel de France“ als einen Film vor dem Mauerfall.

Aber nein: Nichts weist in „L'homme blessé“, dessen Drehbuch übrigens von Hervé Guibert mitverfaßt wurde, auf Aids hin. Homosexualität ist tödlich in diesem atemlosen Film, der zum großen Teil auf dem Bahnhof von Lyon spielt, aber als Leidenschaft, als Triebschicksal, das gesellschaftlich verpönt ist und darum nicht zum Glück findet. Auch in „Hôtel de France“ läßt eine festgefügte Gesellschaft Integration nicht zu: diesmal gleich einer ganzen Generation, der Dreißigjährigen, der Erben, aus denen nichts mehr wird. Eine Festgesellschaft kreist um sich selbst, perspektivlos, ein virtuoses Gestenballett. So etwas wie „Geschichte“ scheint es nicht zu geben. Oder nicht mehr. Oder noch nicht wieder? Der Film beruht auf Tschechows „Platonow“. Es ist doch interessant, daß die Regisseure in den späten siebziger und den achtziger Jahren die Autoren von vor den Revolutionen, Tschechow eben oder Marivaux, wiederentdeckten!

Das Arsenal und das Institut Français veranstalten die Retrospektive anläßlich Chéreaus „Wozzeck“-Inszenierung, die übermorgen in der Staatsoper Premiere hat. „L'homme blessé“ und „Hôtel de France“ laufen mit Untertiteln, die beiden anderen Filme werden im Original gezeigt. Eine Untertitelung hätte pro Film achttausend Mark gekostet, soviel Geld hat das Arsenal nicht. Nicht einmal eine eingesprochene Übersetzung wird konzediert. Ohne polemisieren zu wollen: Aber was kostet die „Wozzeck“-Inszenierung, was kostet die „Wozzeck“-Woche von Staatsoper und Konzerthaus? Warum schafft es diese Stadt nicht, Kino zum Ereignis zu machen?

Hôtel de France, am 17. und 20.; Judith Therpauve, 18., L'homme blessé, 19. und 27.; La chair de l'orchidée, 24.