Einschüchternde Morgenlatte

Lesen mit abgespreiztem kleinem Finger: Harold Brodkey und Peter Nádas über die Liebe  ■ Von Stephan Wackwitz

Interessieren würde mich an den beiden hier anzuzeigenden Büchern vor allem, welche Sorte von Menschen so was eigentlich freiwillig kaufen und durchlesen soll. Zum Thema gesetzt haben sich ihre Autoren – Harold Brodkey, Inhaber der derzeit höchstdotierten Planstelle für Prallerzählerei in den USA, und Peter Nádas, Newcomer aus Ungarn im Fach Hochton/Tiefsinnessayistik, nichts Geringeres als: die Liebe.

Literaturkritik will bekanntlich immer eine „Debatte“ entfachen. Deswegen sei hier einmal zur Debatte gestellt, ob Sätze wie der nun gleich zitierte eigentlich erträglich sind. Er stammt von Harold Brodkey. Der Erzähler, der gerade in einer Gondel (Sie assoziieren richtig: „Tod in Venedig“, Dirk Bogarde als Gustav Aschenbach, Mahlers Fünfte und so weiter) nach Venedig hineinfährt, will uns mit diesem Satz nahebringen, daß er heute zwar alt ist und bald sterben wird, aber auch mal jung war und damals beim Aufwachen immer eine Morgenlatte hatte: „Als ich heranwuchs, erwachte ich jeden Morgen in Sinnlichkeit, fast immer – Erfahrungen des In-die-Welt-Stürzens.“

Als er heranwuchs, erwachte er fast immer in Sinnlichkeit. Mögen Sie es, wenn sich jemand so ausdrückt? Wirklich? Auch beim zweiten Lesen? Und: Warum mögen Sie das eigentlich? Wenn man so etwas unbedingt sagen will – könnte man es nicht eine Spur weniger wichtigtuerisch sagen? Nur ein kleines bißchen weniger aufdringlich die Haltung einnehmen: „Bewundere, o Leser, wie kompliziert ich das sagen kann, dabei handelt es sich nur um die Erinnerung meines Erzählers an seine Morgenlatte, als er noch jung war: Oder wäre Dir diese Formulierung vielleicht heute morgen, als auch Du mit einer Latte erwachtest, eingefallen, o junger, dummer Leser?“ Ich möchte mal zur Debatte stellen, ob man derlei als Literaturkritiker nicht „Einschüchterungs-“ oder „Protzstil“ schelten und als Leser durch Nichtkaufen und Nichtlesen bestrafen sollte.

„Und das Motorboot schlenkert und stampft in der strahlenden, harten Kabbelung des Canalazzo, in der sich auf einmal breit entfaltenden Wirklichkeit grau beleuchteten Wassers und krängender Palazzi. Wirklich, sie ist wie ein geraffter Gedanke, diese Szenerie, noch nicht ganz Wort geworden, unvollständig sichtbar, gierend nach Wirklichkeit, nach ihrer Erfassung, erfüllt vom Drang, sich zur Schau zu stellen und schön.“

Schwerliteratenpathos

Soviel spannende Sexszenen schreiben, daß ich ihm solche Sätze noch verzeihen würde, kann niemand – und Harold Brodkey schon gar nicht. Die Kritiker in Amerika und bei uns, die den distinguierten Krampf von Brodkey seit nun fast schon zehn Jahren als unbedingt zu kaufende, ja: zu lesende Literatur rühmen, scheinen nicht zu wissen, daß man das Pathos des Schwerliteraten seit schätzungsweise 1830 in zivilisierten Gegenden nicht mehr allen Ernstes aufrechterhalten kann. Denn man soll es ja aufrechterhalten. Aber man kann es ohne Selbstironie nicht mehr.

Harold Brodkey schreibt so ernst und schwer und humorlos, als sei er durchs Abitur gefallen. Das Klassenziel mit allen essayistischen Mitteln erreichen will dagegen Peter Nádas. Gleicht das Buch von Harold Brodkey einem jener Menschen, die sich stets nur in möglichst fernab liegenden Pointen und Metaphern ausdrücken, erinnert Peter Nádas' „Von der himmlischen und der irdischen Liebe“ an den Typ von Bekannten, der auf die unschuldige Frage „Wie geht's?“ mittels eines langen labyrinthischen Monologs antwortet und mit der Bitte abschließt, die Frage doch etwas zu präzisieren.

„Das klingt, als wollte ich sagen, daß er als Mensch genanntes Wesen erst existiert, seitdem er sich in der Vielfalt anderer lebender Wesen durch das Verklammern von Bildern und Begriffen auch von sich selbst abgrenzt, und ohne diese Besonderheit nicht existiert. Darauf aber kann das Echo nur antworten: existiert. Zumindest soviel wird auch die die Urform des Erinnerns überdeckende abgegrenzte Erinnerung antworten. Doch seit wann ist seitdem? Das Echo kann auch nur zurückfragen: seitdem? Verknüpfst du nun die Begriffe Jahr und Tausend damit und rufst dem Berg zu: Wahrlich seit Jahrtausenden – seitdem, so wird das Echo auf die gewagte Äußerung nichts anderes antworten: seitdem.“

Kultursoziologisch betrachtet, verkörpern Brodkey und Nádas zwei unterschiedliche Typen mißlungener Distinktion. Ihr stilistischer Habitus ist für ein kulturelles Feld vorbereitet und erarbeitet worden, das sich unterderhand aufgelöst hat; man könnte es vorläufig-summarisch als das der ironiefreien WichtigWichtig-Literatur kennzeichnen. Der komische Effekt beim Verpuffen der literarischen Droh- und Protzgesten Brodkeys und Nádas' in dem Vakuum, an dessen Stelle vor 15 Jahren noch ein Markt gewesen sein muß, belehrt darüber, wie entscheidende Umstrukturierungen das literarische Feld gerade in den achtziger Jahren erfahren hat: Veränderungen, die aus kulturkritischer Sicht Verfall heißen müssen, von denen man objektiverweise jedoch nur sagen kann, daß literarische Dispositionen wie diejenigen Brodkeys und Nádas' durch sie obsolet gemacht worden sind.

An einer Randbranche wie der essayistischen läßt sich die Natur dieser Veränderungen besonders lehrreich studieren. Nádas' Buch stellt die Merkmale einer alteuropäisch-hansegonholthusenhaft gebildeten Essaytradition aus, der im Westen durch die Arbeit – beispielsweise – Michael Rutschkys während des letzten Jahrzehnts die Geschäftsgrundlage entzogen worden zu sein schien.

Stilfigurenballung

Eine Passage wie die folgende enthält ihre typischen Bluffmotive – „in nuce“, wie jene Unglücksraben es zweifellos formulieren würden. Nämlich: die weltgeschichtliche Perspektive, in der alle Bedeutung untergeht; das Aufblasen von Binsenwahrheiten zu welthistorisch konstanten „Problemen“; deren Mythisierung als janusköpfig: „Fluch und Segen“; die besinnungslose Stilfigurenballung:

„Die Not mit der Liebe und dem Mangel an Liebe ist in der europäischen Literatur viele tausend Jahre alt. Aber egal, ob die Liebe als Not mit der Praxis oder solche des Mangels in Erscheinung tritt, immer wendet sie uns ihre beiden Gesichter zu. Schwer, bedrückend, düster und tragisch, frivol, verlockend, unbeschwert, reizvoll, beglückend und verheißungsvoll. Licht und Finsternis.“

Dies ist nun zweifelsohne ganz fürchterlicher Quark – vorgebracht in der Gewißheit, daß einen Autor, der soviel Abendland kann, schon keiner fragen wird, ob denn auch wahr und interessant ist, was er da eben gesagt hat.

In einer Freiburger Bank, berichten mir dortige Gewährsleute, ist neulich der ganze Schalterdienst zu einem „Benimm-Kurs“ verdonnert worden, zu einer jener Veranstaltungen, wo man lernt, wie man Handküsse ausführt und wohin man das Buttermesser bei Tische legt. (Der Kleinbürger ist bekanntlich sowieso nie beim Essen, sondern „zu Tisch“: Rufen Sie ihn doch zur Mittagszeit im Büro an.)

Wie die Absolventen eines solchen Kurses stelle ich mir, um auf meine Anfangsfrage zurückzukommen, die Idealleser der neuen Bücher von Brodkey und Nádas vor. Das Überweisungsformular für Gnä' Frau und ein gutes Buch auf dem Nachttisch: Menschen, die beim Lesen den kleinen Finger abspreizen.

Harold Brodkey: „Profane Freundschaft“. Roman. Aus dem Englischen von Angela Praesent. Rowohlt, 496 Seiten, geb., 48 DM

Peter Nádas: „Von der himmlischen und der irdischen Liebe“. Aus dem Ungarischen von Zsolt Horpácsy und Dirk Wölfer, Rowohlt Berlin, 180 Seiten, 32 DM