Wer ist klüger – die Waage oder das Kamel?

■ Mit hochfliegenden Wünschen, aber niedrigen Erwartungen gehen die Äthiopier wählen

Addis Abeba (taz) – Barfuß sucht der Alte seinen Weg durch den Schlamm zum Wahllokal, seinen Wanderstab hat er über den Arm gehängt. „Ich habe gewählt, damit es wieder so wird wie früher“, erklärt mit entwaffnender Offenheit der 69jährige Mesfin. In einem der ärmeren Stadtteile der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba hat er gerade seine Stimme bei den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung abgegeben – die ersten nationalen Wahlen in Äthiopien seit dem Ende der sozialistischen Militärdiktatur 1991. In die Zeiten des Diktators Mengistu wünscht sich Mesfin zwar nicht zurück – aber er will überleben können, und dafür müßte Frieden sein zwischen den Ethnien.

Mesfin sammelt Brennholz in einem Wald nahe der Hauptstadt und verkauft es dann auf dem Markt. „Früher“, erzählt der Angehörige der Oromo-Volksgruppe, „konnte ich von einem Ort zum anderen gehen. Aber heute werfen mich die Leute aus dem Wald, wenn ich nicht zu ihrer Volksgruppe gehöre“. Seine neunköpfige Familie hat er zu dem Wahllokal in einer Grundschule nicht mitgebracht. Auch sonst ist der Andrang nicht groß.

In den Klassenräumen wird den Interessierten auf fotokopierten Zeichnungen erklärt, wie man wählt: Jeder der mehrheitlich parteilosen lokalen Kandidaten hat ein eigenes Symbol. Das Wahlvolk entscheidet sich für eine Lehmhütte, ein Kamel oder eine Taube. Organisatorische Probleme gab es dank internationaler Hilfe nicht, meint Kassahum Hassan Ali von der Wahlkommission. Auch das Volk sei vorbereitet, meint er: Man habe es in den Gemeindeversammlungen, den kebeles, aufgeklärt. In der unruhigen Somali-Region allerdings mußten die Vorbereitungen ausfallen, so daß die Wahl dort im Juli nachgeholt werden soll.

In traditionelle Stoffe gehüllt, sitzen die Ältesten der kebele mit unbewegter Mine in den Klassenräumen. Die Gemeinde hat sie zu Wahlbeobachtern ernannt – 600 gibt es landesweit, davon 448 Äthiopier. Er sei stolz auf seine Tätigkeit, sagt einer, und alles sei in bester Ordnung. Etwas anderes sagen dürfe er erst nach dem 30. Juli, wenn die Regierung die Ergebnisse veröffentlich hat. Teilergebnisse werden in frühestens einer Woche erwartet. Allerdings steht die regierende „Revolutionäre Demokratische Front des Äthiopischen Volkes“ (EPRDF) als Gewinnerin ohnehin fest, da keine Oppositionsgruppe kandidiert.

„Viele wählen einfach das Symbol, das sie mögen“

Eine ältere Frau kämpft mit der nicht abwaschbaren Tinte an ihrer Hand. Drei Zettel verschmiert sie, ehe sie den Daumen sauber neben die Waage, das Symbol der EPRDF, drückt. In diesem Stadtteil gibt es sowieso keine anderen Kandidaten. Sie hat gewählt, sagt sie, „damit meine Kinder in Frieden lernen können“. Näheres über die Wahl weiß sie nicht.

„Viele Leute wählen einfach das Symbol, das sie mögen“, meint Regierungssprecherin Netsanet Asfan. „Es dauert Jahre, bis sie verstehen, worum es geht.“ Den Verfassungsentwurf, den die zu wählende Versammlung diskutieren soll, hat ein als regierungstreu geltendes Gremium bereits ausgearbeitet. Frauen sollen darin umfangreiche Rechte wie zum Beispiel das gleiche Recht auf Landbesitz erhalten. Über Radio und Fernsehen hat die 32jährige Mulu Bajene das gehört, und deshalb ist sie wählen gegangen. „Ich will als Frau das gleiche Recht auf Arbeit und Ausbildung“, sagt sie. Seit 21 Jahren arbeitet sie in der britischen Kaffee-Exportfirma, deren Cafeteria jetzt als Wahllokal dient. Im Schichtdienst sammelt sie am Fließband faule Bohnen heraus, acht Stunden am Tag für umgerechnet 50 Mark im Monat. Das Leben, meint ihre 22jährige Kollegin Efenesh Derese, sei unter der neuen Regierung eher härter geworden. Sie erhofft sich vor allem eins: „Arbeit für die Arbeitslosen.“ Von ihren weniger als 30 Mark monatlich müssen auch ihre arbeitslosen Eltern leben.

Ob das Selbstbestimmungsrecht der über 80 Volksgruppen bis zum Recht auf Unabhängigkeit gehen soll, gehört zu den umstritteneren Punkten des Verfassungsentwurfs. Niemand weiß ferner, ob die Regierung wie versprochen den Staatsbesitz privatisiert; Investoren halten sich daher zurück. Das Wirtschaftswachstum ist von 7,6 Prozent 1992 auf 3,5 Prozent im letzten Jahr gesunken.

Die Verlierer dieser Entwicklung bleiben am Wahltag vor der Tür. Auf dem Markt vor dem Wahllokal im Stadtteil Kehene M'haniam drängen sich die Händler, wie jeden Sonntag. „Zum Wählen habe ich keine Zeit“, erklärt der 38jährige Getachew. „Ich muß meine Kinder durchbringen.“ Nur wenige haben Interesse an seinen Plastikschüsseln, Kämmen und Kauri-Muscheln. Die Mutter seiner drei Kinder starb im Bürgerkrieg auf der Flucht.

Die oppositionellen Gruppen, die aus formalistischen Gründen von der Wahl ausgeschlossen sind oder sie boykottieren, leisten ihren eigenen Beitrag. In einem Stadtteil verteilten sie noch in der Nacht zum Sonntag Plakate, auf denen sie wegen möglicher gewalttätiger Ausschreitungen vor dem Besuch der Wahllokale warnten. Am Wahltag selbst bleibt es allerdings ruhig. Ein Passant erklärt knapp: „Ich wähle nicht, denn ich glaube an die Demokratie.“ Bettina Rühl