Die Spannung steigt im Pulverfaß Chiapas

■ Noch hält der zwischen der mexikanischen Armee und der Zapatisten-Guerilla EZLN vereinbarte Waffenstillstand. Aber die Friedensverhandlungen stecken in einer hochexplosiven Sackgasse

Die Spannung steigt im Pulverfaß Chiapas

Mexiko steht womöglich ein heißer politischer Sommer bevor. Von Unregierbarkeit ist die Rede, so mancher Beobachter spricht gar von der Möglichkeit eines Bürgerkrieges, der weit über die Grenzen des Bundesstaates Chiapas hinausgehen könnte. Knapp sechs Monate nach der Januarrevolte der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee (EZLN) und wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen am 21. August scheint das mexikanische Krisenmanagement – das mit den spektakulären Friedensverhandlungen im Februar die Welt noch in Erstaunen versetzt hatte – in einer hochexplosiven Sackgasse angelangt zu sein.

Kommentatoren aller politischen Lager, von der rechtsliberalen PAN-Partei bis hin zum Sprecher der indianischen Guerilla im chiapanekischen Regenwald, „Subcomandante“ Marcos, warnen die mexikanische Öffentlichkeit vor einem erneuten Ausbruch der Gewalt. Zapatistenchef Marcos zufolge haben sich in den letzten Monaten nicht nur die Einheiten der EZLN, sondern auch „andere bewaffnete Gruppen“ über das ganze Land verteilt. Sollte der Weg des friedlichen Übergangs in die Demokratie scheitern, so stünde dem Land entweder „ein regulärer Krieg zwischen zwei regulären Armeen“ bevor oder, „im schlimmsten Fall“, ein „Bürgerkrieg zwischen vielen Armeen und ohne jede Kontrolle“. Die einzige Alternative zur militärischen Eskalation sei die „zivile Mobilisierung“, so Marcos.

Auch die Gegenseite rüstet sich für den Ernstfall: Neben der militärischen Einkesselung des von den Zapatisten gehaltenen Gebietes bemüht sich die Armee derzeit um die Modernisierung des eigenen Waffenarsenals – nicht immer mit Erfolg. So lehnte die US-Regierung vor kurzem einen Antrag der mexikanischen Armee auf den Erwerb von drei hochmodernen Militärhubschraubern mit dem Argument ab, dies sei angesichts der „delikaten politischen Lage“ beim südlichen Nachbarn nicht opportun. Dafür wurde, wie ein Regierungsfunktionär in Washington gegenüber Journalisten der mexikanischen Tageszeitung La Jornada bestätigte, der Verkauf von vier Transporthubschraubern der Marke „Black Hawk“ vom Weißen Haus genehmigt. Zwei Monate zuvor war die Armee durch den Kauf von 24 US-Panzerwagen zur Aufstandsbekämpfung in die Schlagzeilen geraten. Sprecher der oppositionellen PAN äußerten sich damals besorgt; immerhin zeigten „derartige Ankäufe, wie die Regierung sich auf künftige politische Probleme vorbereitet“.

Und alles spricht dafür, daß die Probleme für die PRI-Regierung nicht kleiner, sondern größer werden. So platzte erst vor wenigen Wochen das hochgelobte Dialogmodell in der südöstlichen Krisenregion Chiapas. Zunächst war es die indianische Guerrilla gewesen, die am 10. Juni mit ihrer kategorischen Ablehnung des Friedensangebots der Regierung etwaige Hoffnungen auf eine schnelle Beendigung des „Volkskrieges“ zerschlug. Genau eine Woche später gab Regierungsunterhändler Manuel Camacho Solis auf und verkündete zum Erstaunen all derjenigen, die den populären PRI-Liberalen als ehrgeizigen Vollblutpolitiker kennen, gleichzeitig seinen Rückzug aus dem politischen Leben – zumindest bis zum Ende der Amtszeit von Salinas de Gortari. In seiner Begründung nannte Camacho Solis ganz offen Meinungsverschiedenheiten mit seinem Parteigenossen und Präsidentschaftskandidaten Ernesto Zedillo, der die monatelangen Dialogversuche kurzerhand als „Mißerfolg“ bezeichnet hatte. Noch am selben Tag erklärte auch die zweite Schlüsselfigur im Friedensprozeß, Bischof Samuel Ruiz, daß er seine Vermittlerrolle vorerst als beendet betrachte, den Friedensbemühungen aber weiterhin „zur Verfügung“ stehe.

Wie Staatschef Salinas kürzlich bekanntgab, soll der bisherige Präsident der staatlichen Menschenrechtskommission, Jorge Madrazo, die „delikate Mission“ (Salinas) seines Vorgängers Camacho Solis weiterführen. Ob es dem Verfassungsrechtler gelingen wird, das Vertrauen der Zapatisten wiederzugewinnen und noch vor den Wahlen eine Verhandlungslösung in die Wege zu leiten, ist angesichts der zapatistischen Weigerung, sich erneut mit der „illegalen Regierung“ an einen Tisch zu setzen, zumindest zweifelhaft.

Immerhin haben beide Kriegsparteien wiederholt ihre Entschlossenheit bekräftigt, den Waffenstillstand bis auf weiteres zu respektieren. Die Scharmützel aber gehen unvermindert weiter. So berichteten drei junge Tzeltal-Indianerinnen gegenüber La Jornada, daß sie Anfang Juni an einer der unzähligen Straßensperren in Altamirano von etwa 30 Soldaten als mutmaßliche Zapatistinnen festgenommen, mißhandelt und vergewaltigt worden seien. Die Frauengruppe von San Cristóbal und das Friedensnetzwerk CONPAZ erstatteten daraufhin Anzeige gegen die Armee. Schon wenige Tage später erreichte die Presse das „energische“ Dementi des Verteidigungsministeriums: Nach einer „ausführlichen Untersuchung“ sei man zu dem Schluß gekommen, daß es an dem Kontrollpunkt „weder Schläge noch Vergewaltigungen“ gegeben habe. Verärgert sind auch die chiapanekischen Viehzüchter. Nachdem der „Dialog“ vorerst gescheitert scheint, reißt ihnen die Geduld: Sie verlangen, daß die Armee die derzeit insgesamt 400 von indianischen Landarbeitern im Zuge des „Volkskrieges“ besetzten Parzellen ausnahmslos räumt (siehe Artikel unten).

Trotz der angespannten Lage geht die Suche nach einer friedlichen Lösung weiter, inner- und außerhalb des chiapanekischen Regenwaldes. In der Hauptstadt bilden sich zur Zeit verschiedene Bürgerallianzen aus unabhängigen Intellektuellen und Parteipolitikern. „Nicht der 21. August ist der entscheidende Tag für unsere Zukunft“, faßt ein Beobachter zusammen, „sondern der Tag danach.“ So ist das vordringliche Anliegen der „Grupo Plural“ um den renommierten Politologen Jorge Castaneda, die Glaubwürdigkeit der kommenden Wahlen zu erhöhen, um so die „drohende Unregierbarkeit“ sowie Gewaltausbrüche nach den Wahlen abzuwenden.

Die EZLN bleibt erwartungsgemäß skeptisch: Weder ruft sie zum Urnengang auf, noch ermuntert sie ihre Anhänger zum Wählen einer bestimmten Partei. Dennoch werden Wahlkampagnen der Parteien in dem von den Zapatisten kontrollierten Regenwald nicht behindert. Außerdem kündigte die Guerilla selbst eine nichtmilitärische Offensive an: Alternativ zum ausgesetzten Dialog lädt die Führung der EZLN „alle ehrlichen und unabhängigen Kräfte“ zu einem Nationalen Demokratischen Konvent auf zapatistischem Territorium ein. Diese „Convención“, geplant für den 23. und 24. Juli, sei nicht etwa als Aufruf zur Teilnahme am bewaffneten Kampf gedacht. Ausdrücklich unerwünscht bei dem Treffen seien diejenigen Gruppen, „die glauben, daß man den demokratischen Wandel nur über den bewaffneten Kampf erreicht“ oder die sich kategorisch „gegen Wahlen als Weg zur Veränderung“ aussprechen. Ausgerechnet diese Teilnahmebedingungen hatten bei einem Vorbereitungstreffen in der Nationaluniversität von Mexiko- Stadt zu hitzigen Diskussionen mit radikalen Splittergruppen geführt.

Schließlich aber bekundeten regierungsunabhängige Organisationen, Gewerkschaften und Politiker der linken PRD ihr Interesse am oppositionellen Treffen im Regenwald. Einhellig begrüßt wurde, wie auch schon bei dem parallel stattfindenden Regionaltreffen von Bauern-, Indianer- und Menschenrechtsvertretern in Chiapas, das Angebot der EZLN: „Wir bieten einen Platz, Unterstützung, Schutz sowie eine Vorstellung davon, daß das, was uns zu den Waffen gebracht hat, andere durchaus an die Urnen bringen könnte.“