Im Wettlauf mit der Ampel

Sie stehen stundenlang an abgasgeschwängerten Straßenkreuzungen und säubern mit Schwamm und Wischer verdreckte Windschutzscheiben: Polnische Putz-Punks finanzieren so ihr Studium  ■ Aus Berlin Thorsten Schmitz

Sie bezeichnen sich als „Hardcorepunks“ und arbeiten im Akkord von 11 bis 19 Uhr. Ohne Pause, von montags bis sonntags. Sebastian (19), Darek (21), Mariosz (18) und Gregori (16), kommen aus Lodz und sprechen kein Wort Deutsch. Ihr Arbeitsplatz ist eine gigantische Berliner Kreuzung: Mehringdamm/Ecke Tempelhofer Ufer. Täglich acht Stunden atmen sie die Abgase von mehreren zehntausend Autos und Lkws ein. Der Lärm startender Motoren hat sie inzwischen so taub gemacht, daß man jeden zweiten Satz wiederholen muß.

Die Gesichter der vier Jungspund-Punks sind staubgrau. Ihre Einheitskluft: schwarze, zerrissene Jeans, schwarze T-Shirts mit düsteren No-future-Motiven, schwarze Converse-Turnschuhe. Auf ihre Unterschenkel haben sie mit einem Filzstift kryptische Motive gemalt. „Wir würden uns gerne tätowieren lassen“, sagt Sebastian, „aber das ist zu teuer.“

Dabei verdient die Viererbande gar nicht mal schlecht. Alle 49 Sekunden, wenn die Ampel für 40 Sekunden auf Rot springt, wieseln sie, jeweils zu zweit, zwischen den Autos hindurch und bringen Windschutzscheiben auf Hochglanz. Vorausgesetzt, die Autofahrer sind einverstanden.

Fast ausschließlich polnische Straßenkids bieten in Berlin und Hamburg eine Dienstleistung an, die Deutsche eigentlich nur aus Dritte-Welt-Ländern kennen. Berlins Polizei und das ortsansässige Gewerbeaufsichtsamt beäugen die Tagelöhner mit allergrößtem Wohlwollen: „Ist doch besser, als wenn die betteln würden“, heißt es unisono.

Im Wettlauf mit der Ampel schäumt Sebastian flink mit einem Schwamm die verdreckten Scheiben ein, Darek zieht mit einem Wischer die weiße Schicht wieder ab. Die Zeit reicht dann gerade noch, um das Geld entgegenzunehmen. Manchmal sind es 60 Pfennige, mitunter 5, oft 2 Mark. Ganz selten macht mal jemand 10 Mark locker. Pro Acht-Stunden-Schicht verdient jeder zwischen 50 und 80 Mark. Für die vier Youngsters aus der 850.000-Seelen-Stadt Lodz ein Vermögen. Ein Fabrikarbeiter in Lodz, sagt Sebastian, verfüge im Monat noch nicht mal über die Hälfte.

Die meisten Berliner Scheibenwischer kommen aus Warschau, Lodz, Posen oder Krakau. Wie ein Lauffeuer hat sich dort im Frühling herumgesprochen, daß in Berlin und Hamburg das Geld auf der Straße liegt. Mit dem, was sie in zwei, drei Monaten hier verdienen, finanzieren sie Punk-Utensilien wie Nietengürtel, DocMartens- Schuhe und Platten, trampen nach Amsterdam zum Hasch-Großeinkauf und können sich in Polen den Rest des Jahres über Wasser halten. Gregori: „Mit dem Geld, das ich hier verdiene, kann ich wunderbar in Lodz leben.“

Arbeit kriegen die vier „Hardcorepunks“ aus Lodz in ihrer Heimat nicht. Mit ihren Nasen- und Ohrringen, mit den abenteuerlichen Haarschnitten hält sie dort jeder für Schwerverbrecher – oder für verrückt. Darek ist auf Arbeit ohnehin nicht besonders scharf: „Ich lebe so in den Tag hinein“, sagt er. „Ich denke nicht an die Zukunft.“ Berlin findet er wunderbar, „weil hier Europa ist“. Das heißt: Darek mag große Städte, und er mag „viel Freiheit“. Seinen Eltern hat er gesagt, er besuche Freunde in Berlin.

Die Freiheit der vier polnischen Outcasts besteht darin, zu entscheiden, wem sie sich anbieten. Besitzer großer Limousinen, haben ihre Studien ergeben, verzichten fast immer auf den Durchblick für zwei Mark: „Die haben Angst, wir könnten ihr Auto verkratzen“, sagt Mariosz. Türken winken auch meist ab. „Obwohl die fast immer dreckige Autos fahren“, wundert sich Sebastian. Wenn ihnen eine Frau gefällt, putzen sie auch schon mal umsonst: „Flirten muß sein!“ lacht Gregori. Und bittet einen Lkw-Fahrer um eine Zigarette.

Nach Geschäftsschluß ist auch für die Putz-Punks Feierabend. Jeden Abend gegen sieben fahren sie mit der U-Bahn nach Downtown- Kreuzberg. Dort schlagen sie ihre Mägen voll mit Kebab und türkischer Pizza: „So was gibt's bei uns nicht.“ Anschließend fahren sie mit der S-Bahn zu einem wilden Punk-Camp an den Wannsee, wo sie schwimmen gehen, ihre verdreckten Klamotten waschen, Joints rauchen und Bier trinken. Bis sie vor Erschöpfung im Sandstrand einschlafen.

Inzwischen sind alle lukrativen Kreuzungen Berlins von den mobilen Scheibenwischern in Beschlag genommen worden. Marlena und Martin, beide 18 und aus Warschau, haben besonderes Glück: sie stehen mit Schwamm und Wischer an der gewinnträchtigsten Kreuzung, Wilhelmstraße/Ecke Hallesches Ufer. „In vier Stunden verdienen wir 200 Mark“, sagt Martin.

Marlena studiert in Warschau Kunst. Ohne den Straßenjob könnte sie das nicht finanzieren: „Meine Eltern haben kein Geld für mich, und Jobs wie in Deutschland gibt es bei uns nicht.“ Martin möchte die Welt kennenlernen. Egal ob in Brüssel, Paris oder Berlin: immer wenn er Geld braucht, stellt er sich an Kreuzungen und seift ein. Natürlich könnte er sich was Besseres vorstellen, als stundenlang in Abgasschwaden zu stehen und verstaubte Windschutzscheiben zu putzen. Aber eine Ausbildung hat er nicht absolviert in Polen. Das Land mußte er fluchtartig verlassen. Denn auf Militärdienst hatte er noch weniger Lust als auf die Scheibenwischerei.