KZ in der Innenstadt

Hans Biereigels Buch über das Lager Oranienburg dokumentiert Erlebnisberichte und die Verteidigungsschrift des Kommandanten  ■ Von Peter Walther

Nicht im benachbarten Sachsenhausen, sondern mitten in der Stadt Oranienburg wurden am Abend des 21. März 1933 Gefangene in das erste deutsche Konzentrationslager gebracht. Keineswegs still und heimlich, vor den Augen Tausender sind die politischen Gegner der Nazis eingeliefert worden: „Gläubig legten Hände sich ineinander, während das Lied Horst Wessels gegen den nachtdunklen Himmel anbrandete. Als die Fackeln langsam verlöschten, da waren die Gefangenen auf Lastautomobilen herangekommen. Stumm ergriffen von der Größe des soeben erlebten geschichtlichen Augenblicks, blickten Tausende hinüber zu dem Lastwagentransport.“

So schildert der erste Kommandant, Werner Schäfer, die Anfänge seines Konzentrationslagers in einem Buch, das als Antwort auf die sich allmählich verbreitenden Nachrichten von Nazi-Greueln in den KZs gedacht war. Zusammen mit dem Erlebnisbericht des im Dezember 1933 erfolgreich nach Prag entkommenen Sozialdemokraten Gerhart Seger und einigen anderen Berichten und Zeugnissen findet sich die Schrift des Lagerkommandanten in einem Dokumentenband, der von Hans Biereigel herausgegeben wurde. „Mit der S-Bahn in die Hölle. Wahrheiten und Lügen über das erste Nazi-KZ“ – ungeachtet der Vorliebe des Aufbau-Taschenbuchverlags für reißerische Titel ist der Name des Bandes auch inhaltlich mißverständlich, klingt er doch so, als sei eine ausgewogene Mischung von Übertreibungen und Verharmlosungen der KZ-Praxis gleichberechtigt nebeneinander im Buch versammelt, und die Wahrheit läge irgendwo dazwischen.

Sowohl das Vorwort des Herausgebers als auch die Präsentation der Texte zerstreuen diesen Verdacht, wenn auch zum Teil mit den Mitteln rüder, nicht einmal gekennzeichneter Zensur an solchen Stellen, „die der Verherrlichung und Verbreitung nationalsozialistischer Ideologie dienen“. Dieses Zensurkriterium ist, gelinde gesagt, unsinnig, denn alles, was in der Verteidigungsschrift des Lagerkommandanten zu lesen ist, dient genau diesem Zweck. So erscheint die Einrichtung des KZs in den Berichten des Kommandanten Schäfer als technische Pioniertat. Er beschreibt den Tatendrang der Wachmannschaften und Insassen des Lagers; gemeinsam hätten sie die Arbeit als wirksamstes Mittel der Erziehung kennengelernt. Nach und nach werden elektrisches Licht und Wasserleitungen in die verkommenen Räume der alten Brauerei gelegt, die den Häftlingen als Unterkunft dienen. Vom hygienischen Standard können sich Gäste aus der ganzen Welt überzeugen, wenn sie sich vorher bei der Gestapo anmelden. So und ähnlich „überführt“ der Lagerkommandant jene Hetzer und „unsauberen Skribenten“ wie den ehemaligen Häftling Seger der Lüge.

Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Gerhart Seger weiß freilich anderes vom Lagerleben in Oranienburg zu berichten. Etwa von den Folterpraktiken im berüchtigten „Zimmer 16“, von den sogenannten Stehsärgen, körperengen Betonschächten, in denen die Häftlinge teilweise tagelang stehen mußten, oder von den Morden und Suiziden im Lager. Der Bericht Segers fand in zahlreichen Ländern Verbreitung. Da die Nazis zu jener Zeit noch Wert darauf legten, die öffentliche Meinung im Ausland zu ihren Gunsten zu beeinflussen, gingen sie mit dem Buch von Schäfer in die propagandistische Offensive. Das Konzentrationslager wird als ein vorübergehend eingerichtetes Erziehungsheim für irregleitete Volksgenossen dargestellt, die im übrigen (wie die Wachmannschaften, bevor sie zur SA gefunden hatten) selbst nur als Opfer der politischen Wirren während der verhaßten Weimarer Zeit zu betrachten sind. „Es galt, an und für sich wertvolles Menschenmaterial zu retten“, schreibt Kommandant Schäfer. Man fühlt sich – vom lingua tertia imperia-Stil abgesehen – an Erziehungssprachen in einer autoritären Großfamilie erinnert. Nicht zu Unrecht, gab es doch in Oranienburg den authentischen Fall eines wegen kommunistischer Betätigung einsitzenden Häftlings, dessen Vater in der Wachmannschaft Dienst tat. Für den einzigen Selbstmörder, den Schäfer zugibt, findet der Lagerchef Worte makabrer Leutseligkeit. Obwohl er für die falsche Seite gestorben sei, zeige sich in der Konsequenz des Freitods immerhin die „idealistische Einstellung“ des jungen Kommunisten.

Der geballte Haß aller ehrlich arbeitenden Menschen habe sich, so ist der Schrift Schäfers zu entnehmen, gegen die Nutznießer des Systems zu richten, gegen die sozialdemokratische Prominenz und die „Rundfunkbonzen“, die sich ihre Villen mit Arbeitergroschen ergaunert hätten. Zumindest bei Teilen der Inhaftierten ist diese Propaganda nicht ohne Wirkung geblieben. Das geht auch aus den Berichten Segers hervor, der das Verhältnis von gemeinsam internierten Sozialdemokraten und Kommunisten als gespannt bis feindlich beschreibt. Einige Kommunisten hätten in den Beifall der SA eingestimmt, als prominente Sozialdemokraten wie der Sohn des ersten deutschen Reichspräsidenten und spätere SED-Oberbürgermeister von Ost-Berlin, Friedrich Ebert, bei ihrer Einlieferung in das KZ mißhandelt wurden, andere hätten sich angeekelt von der Szene abgewandt. Übrigens waren auch einzelne SA-Leute, die sich vom Kurs der „nationalen Revolution“ enttäuscht gezeigt hatten, im Lager Oranienburg inhaftiert. Sie genossen jedoch den Status von „Ehrenhäftlingen“ und mußten weder arbeiten, noch waren sie Mißhandlungen ausgesetzt.

Die Schrift des Lagerkommandanten Schäfer ist, was die Zustände in den Konzentrationslagern betrifft, der einzige propagandistische Vorstoß der Nazis in Buchform geblieben. Später gab es Rundfunkübertragungen aus den verschiedenen KZs, Zeitungs- und Filmberichte, die vor allem die ausländische Öffentlichkeit irreleiten sollten. In der von Schäfer (vermutlich im Auftrag von Goebbels) verfaßten Schrift den Keim der „Auschwitzlüge“ zu sehen, wie auf dem Rückentext des Buches zu lesen ist, tut dem gewollten Aufklärungseffekt des Bandes keinen guten Dienst. Statt sich beim Leser mit einem verkaufsträchtigen Schlagwort anzubiedern, wäre es sinnvoll gewesen, die Unterschiede zwischen der verbrecherischen Mißhandlung von politischen Gegnern in Oranienburg und der industriellen Massenvernichtung in den großen Vernichtungslagern der Nazis herauszuarbeiten. Das Lager Oranienburg war zwar das erste deutsche KZ (fast zeitgleich mit Dachau), keineswegs jedoch „Prototyp und Modell für die Errichtung künftiger größerer KZs in Deutschland und später in vielen europäischen Ländern“, wie der Herausgeber behauptet. Bestenfalls liest sich das als der ungeschickte Versuch, seinen Gegenstand interessant zu machen, schlimmstenfalls verbirgt sich historischer Relativismus hinter einer solchen These. Schade, daß das verdienstvolle Unternehmen, „nichts und niemanden zu vergessen und die Vergangenheit sichtbar zu machen“, von so vielen Mißverständnissen begleitet ist.

Hans Biereigel: „Mit der S-Bahn in die Hölle. Wahrheiten und Lügen über das erste Nazi-KZ“, Aufbau- Taschenbuchverlag, Berlin 1994, 269 Seiten, 14,90 DM