Stücke am Geist der Zeit

Seit zehn Jahren spielt das Theater des Westens erfolgreich Musicals / Konzept: „Sehr gute und lebendige Unterhaltung“ / Off-Musical in der Ufa-Fabrik  ■ Von Anja Dilk

„Five, six, seven ... la caaage aux folles“. Mit ausgestreckten Armen wirbeln die sechs Gestalten über das Spiegelparkett. Sie drehen sich um die eigene Achse, die Beine strecken sich dem Theaterdach entgegen. Mittwochmittag im Kinosaal des Delphi. Wieder und wieder wird die Choreographie durchgespielt, jeder Schritt muß passen.

Einige Stockwerke höher, vorbei am Schnürbodengewirr hinter der Bühne, probt Helmut Baumann mit seinen Leuten die letzten Szenen des Stückes. „Hier ist Mamaaa“, schallt die Fistelstimme durch den kargen Ballettsaal. Die Handtasche unter den Arm geklemmt, stöckelt Baumann durch die rosafarbene Türattrappe. Die weißen Tennissocken quellen aus den Lackpumps. „Ooch, sag' ich jetzt ,mein lieber Herr‘ ... oder was?“ Der Regieassistent nickt.

Szenenproben im Theater des Westens. Helmut Baumann mittendrin. Der Regisseur und Hauptdarsteller gebärdet sich nicht als großer Meister. Verwirrend oft wechselt er übergangslos zwischen Schauspielen und Regieführen. Die Truppe ist ein Team, wer was zu meckern hat, etwas ändern will, sagt es auch. Sechs Wochen dauern in der Regel die Proben. Danach muß alles sitzen – spätestens bei der Premiere am 15. Januar, wenn „La Cage aux Folles“ ins Theater des Westens zurückkommt. Dann wird eines der erfolgreichsten Stücke des Westberliner Musicalhauses wiederaufgeführt. Erfolgreich ist das Haus seit zehn Jahren. Außer dem „Blauen Engel“ gab es keine großen Flops. Die Durchschnittsauslastung liegt bei 80 Prozent. Wichtige Einnahmen für das Haus, das zwar mit 23,4 Millionen Mark vom Kultursenat subventiert wird, doch 30 Prozent seines Etats selbst finanzieren muß.

„Wir wollen sehr gut, sehr lebendig unterhalten.“ Das ist Baumanns Konzept. Dem Berliner Publikum, meint er, läßt sich nur schwer etwas vormachen. Während „Der blaue Engel“ in Hamburg ein toller Erfolg war, fiel er in Berlin glatt durch. Ganz ohne Subventionen ließe sich auch gutes Musical nicht realisieren, davon ist Baumann überzeugt. „Das kann dann ganz schnell Fast food werden.“ Dennoch, schätzt Cusch Jung, festes Ensemblemitglied seit Bestehen des Theaters, könne die private Konkurrenz auch den subventionierten Häusern guttun.

Einige Kilometer entfernt, im tiefsten Tempelhof, spielt eine Konkurrenz ganz anderer Couleur: Off-Musical in der Ufa-Fabrik. Unbeschwerte Ironie, Publikumsbeteiligung, frisch-freche Slapstick-Einlagen. Da hängt die eine kopfüber in einer Fußschlaufe, der andere gleich daneben immer noch an seiner Liebe, und beides gibt einen wunderbar albernen Song. „Honka He – wehe wenn du Geburtstag hast“ ist die zehnte Produktion der Musicalgruppe „College of Hearts“. „Was der Broadway mit sechzig Leuten macht, schaffen wir mit sechs“, beschreibt Christoph Swoboda, der von Anfang an mit dabei war. Die Darsteller besetzen mehrere Rollen, einen Orchestergraben gibt es nicht. Musik, Tanz und Schauspiel sollen vermischt sein, eine harmonische Einheit bilden.

Seit zehn Jahren macht „College of Hearts“ Musicals. Was sich damals aus einigen Straßenmusikern und -theaterleuten zusammenraufte, um eine Persiflage auf das amerikaische Musical zu inszenieren, ist inzwischen eine halbwegs etablierte Berliner Gruppe geworden. Im Off-Bereich versteht sich. „Doch auch bei uns“, sagt Christoph Swoboda, „geht es nicht ohne Förderung.“ Die 70.000 bis 120.000 Mark für die Produktion würden sie aus eigener Tasche kaum zusammen bekommen. Und sonst bliebe das Off-Musical nichts als eine Durchlaufstation zu den großen Theatern. „Das wäre total schade“, findet der Vierzigjährige. „Denn es gibt in Deutschland ein großes Nachwuchspotential. Nur fehlt leider noch so etwas wie der amerikanische Musical-Sumpf, weil man in Deutschland immerzu trennt zwischen ernstzunehmender Kultur und dem Pausenclown.“