Mittelmaß und Wahn

■ Neueste Stufe des Musical-Treibens in Hamburg: Die Buddy-Holly-Story in romantischer Flußszenerie

Die Elbe glitzert in Hamburg jetzt gelb. Zumindest nachts bei den bekannten St.-Pauli-Landungsbrücken, denn dort wird sie von einem riesigen gelben Zelt her beleuchtet, das mitten im Hafengelände auf der anderen Elbseite steht, 1.400 Menschen sowie eine Bühne faßt, die Freßstände und Tresen im Foyer nicht zu vergessen. Innerhalb der bislang hochromantischen Flußszenerie verstrahlt das Ding den Charme und die Diskretion eines notgelandeten Ufos.

Seit vergangenem Freitag kann man mit dem Auto zu diesem Zelt fahren oder sich mit Hafenbarkassen kostenlos übersetzen lassen. Die nächsten Jahre spielt dort das Musical „Buddy – die Buddy-Holly-Story“.

Daß die Adaption einer Rock- 'n'-Roll-Biographie mit Gesang allenfalls Musical as usual bietet, liegt auch am Gegenstand: Das gerade 23 Jahre währende Leben des bebrillten Musikers gibt wenig Material für eine gute Story her. Doch auch sonst kann man hier viel Geld für schlechte Unterhaltung ausgeben. Das stilisierte Bühnenbild läßt die zehn Millionen Mark teure Veranstaltung wie eine Billigproduktion aussehen. Die zwischen die Songs eingestreuten Spielszenen und Dialoge holpern und stolpern über die Bühne wie sonst nur beim Laientheater.

Buddy Holly in Hamburg, das ist ein netter Kerl, ein dufter Kumpel, Schwiegermamis Liebling, nur eins ist er eben nicht: ein Rock'n'Roller. Von wegen zum Leben erweckt. Selten ist Holly so tot gewesen wie hier, und es ist kein besonderer „Anspruch“ vonnöten, das Ganze schlecht zu finden. Es reicht der bloße Wille, sich nicht langweilen lassen zu wollen.

So weit, so normal. Und doch ergibt sich bei näherem Hinsehen eine neue Qualität. Das Hamburger Abendblatt etwa, das Lokalblatt aus dem Springer-Verlag, widmet dem Ereignis eine dreiviertel Seite. Im Zentrum steht die Besprechung der Show, ein gnadenloser, mehr als angemessener Verriß, betitelt: „Wie eine Biographie zum zähen Singspiel verkommt“. Doch gibt es noch eine Hauptüberschrift, die die Besprechung mit den Hintergrundberichten, Nebengeschichten und notorischen Prominenteninterviews verbindet. Sie lautet: „Hamburg im Buddy-Holly-Rausch“.

Hamburg im Rausch? Da wird um jeden Preis etwas herbeigeredet, eine neue Stufe des Musical- Booms, der die Hansestadt befiel, als 1986 „Cats“ nach St. Pauli kam. Und mit gutem Grund: Zur Zeit kann man drei Wochen lang jeden Abend ein anderes Musical sehen und hat dabei ein knappes Dutzend fester Häuser kennengelernt. Im Jahr 1994 werden, grob überschlagen, 50 Produktionen über die diversen Bühnen gegangen sein. Das hat mit Qualität nichts zu tun, das geht nur in einer Stadt, die bereits beim schieren Mittelmaß in Verzückung gerät.

Das ist die eine Seite. Die andere Seite bestimmt die Arithmetik. Die Tourismusbehörde Hamburgs rechnet vor: 6.700 Musical- Sitzplätze insgesamt in Hamburg bei einer durchschnittlichen Auslastung von 80 bis 85 Prozent und durchschnittlich 300 Vorstellungen im Jahr: Das heißt summa summarum 2.000.000 Besucher jährlich – oder 200 Millionen Mark allein an sonstigen Einnahmen. Wer jetzt noch lacht, ist kein hanseatischer Kaufmann.

Frank Buecheler hat vorher gedacht – und jetzt gut lachen. Als die Buddy-Holly-Show vorbei war, begrüßte ihr Produzent – in enthemmter Freude darüber, daß seine Investition sich zu amortisieren beginnt – das Premierenpublikum von der Bühne herab mit den Worten: „Hallo Hamburg, Musical-Town“. Und auch wenn man ihm ob solcher Statements die Krätze an den Hals wünscht, man muß eingestehen: Der Mann hat recht.

Wenn denn dermaleinst die Fluten der großen Gletscherabschmelzung Hamburg unter sich begraben haben werden, wird die untergegangene Hansestadt im Gedächtnis der Nachgeborenen nicht als heimliche Medienhauptstadt Deutschlands nachleben, auch nicht als einer der größten Seehäfen der Welt, nein, so traurig es auch ist – Hamburg, das wird die Musical-Metropole gewesen sein.

Denn es hört ja auch nicht auf. Mit „Evita“ steht bereits das nächste Musical-Großereignis vor den Toren der Stadt. Dirk Knipphals