■ Eine Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit muß neben der Schuldfrage die des politischen Denkens analysieren
: „Darüber habe ich mir damals keine Gedanken gemacht“

Ergreifende Bekenntnisse, verwickelte Biographien, ein erschütterndes Wechselspiel von Anklage und Schuldbekenntnis – die mediengerechte Verarbeitung der Stasi-Vergangenheit ist nach der dramatischen Offenbarung der beiden Journalisten des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg, Lutz Bertram und Jürgen Kuttner, wieder in vollem Gang. Es geht um fehlendes Heldentum und Enttäuschung, um Charakter und Moral, Schuld und Sühne.

Auf der Strecke bleibt die schwer begreifliche politische Dimension der Geschichte der Stasi in der DDR. Warum haben die Bürger der DDR nicht nur vereinzelt, sondern geradezu massenhaft mit der Stasi zusammengearbeitet? Warum gehörte die Stasi für so viele DDR-Bürger zur Normalität ihrer damaligen Gesellschaft?

In den stereotypen Aussagen ehemaliger IMs wie: „Ich kann mich nicht so genau erinnern“ oder: „Darüber habe ich mir damals keine Gedanken gemacht“ scheint diese Normalität immer wieder auf. Mit jedem neu „enttarnten“ IM wird deutlicher, daß die Stasi nicht nur für die Getreuen des Regimes, sondern auch für viele kritisch Distanzierte nichts Monströses an sich hatte und daß die Zusammenarbeit mit ihr im großen und ganzen eine Frage der Zweckmäßigkeit war.

Auch die immer wieder ins Zentrum gerückte Frage: „Hat er jemandem konkret geschadet?“ mogelt sich an der politischen Dimension der Stasi vorbei. Die Stasi war schließlich kein verbotenes Glücksspiel, sondern das Instrument zur umfassenden Überwachung der DDR-Bevölkerung, mit dem jede lebendige Öffentlichkeit und jede unkontrollierte politische Bewegung im Keim erstickt werden sollte. Wer für die Staatssicherheit berichtete, hat daran seinen Anteil.

Die gespenstische „Normalität“ der Stasi ist ein Hinweis darauf, daß der geistige Einfluß der SED, die ja 40 Jahre lang über alle Medien der Macht verfügte, trotz der Unzufriedenheit und des passiven Widerstands beträchtlich war. Von der großen Mehrheit der Bevölkerung wurde die systematische Erstickung eines freien gesellschaftlichen Lebens, wenn auch mit mehr oder weniger starken Bedenken, grundsätzlich als irgendwie zum „Aufbau des Sozialismus“ gehörig hingenommen.

Erst nach der Wende, als der offizielle ideologische Bezugsrahmen ein anderer war, änderte sich auch der Standpunkt der Moral. Erst jetzt fühlten sich die ehemaligen Zuträger der Stasi tatsächlich „schuldig“.

Ein entscheidender Punkt in diesem geistigen Nachlaß der SED ist ihr Entwicklungsbegriff: die Vorstellung, daß die Qualität einer gesellschaftlichen Entwicklung in erster Linie davon abhängt, wie die Gesellschaft ihre materielle Reproduktion organisiert. Alles andere, darunter die Frage der Demokratie, ist sekundär. Demokratie ist vielleicht wünschenswert, aber nicht wesentlich. Sie ist nicht „Sinn“ der gesellschaftlichen Entwicklung.

In diesem Verständnis war der „Aufbau des Sozialismus“ vor allem auf der Ebene der Entwicklung der Produktivkräfte zu bewältigen. Und damit die SED den Prozeß der materiellen Reproduktion optimal organisieren konnte, mußte die Gesellschaft sozusagen stillhalten, beziehungsweise durch die Stasi zum Stillhalten gebracht werden. Die Zwänge, die sich aus der vorrangigen Entwicklung des Produktionsapparates ergaben, waren für die SED-Führung ein zentrales Argument, um ihre Unterdrückungsmaßnahmen zu legitimieren.

Noch heute bekommt man etwa zum Thema Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der rasanten Ausdehnung der chemischen Produktion in der DDR geradezu reflexartig die Antwort zu hören: „Ja, aber das war doch notwendig!“

Es muß dieser Entwicklungsbegriff gewesen sein, die Vorstellung, mit der Erstickung des öffentlichen Lebens den „Sozialismus aufbauen“ zu können, die in den Köpfen nicht nur der regime-treuen DDR-Bürger die „Normalität“ der Stasi begründete. In diesem Licht erschien es schließlich auch kritischen Intellektuellen gar nicht mehr so fürchterlich, an der umfassenden Bespitzelung und Kontrolle der Bevölkerung mitzuwirken, solange der „Sinn“, der Inhalt ihres Lebens dadurch abgesichert wurde, solange sie im Rahmen dessen, was die SED- Führung als gesellschaftliche Entwicklung definierte, ihren Beruf ausüben konnten.

Eine Aufarbeitung der Stasi- Vergangenheit in diesem Sinne würde weniger die Höhen und Tiefen der individuellen Schuld ausloten, als vielmehr die Geschichte des eigenen politischen Denkens analysieren sowie die Frage, welchen Einfluß die dogmatisierte Ideologie des „Marxismus-Leninismus“ darauf hatte. Tatsächlich würde sich die persönliche Schuld relativieren. Denn im Unterschied zur westdeutschen Linken fehlte den Intellektuellen in der DDR die wichtigste Voraussetzung, um sich aus dieser geistigen Tradition herausarbeiten zu können: die freie öffentliche Debatte, der ungehinderte Zugang zu Büchern und Zeitschriften.

„Ich habe damals anders gedacht“, erklären viele ehemalige IMs. Wichtig wäre, auszusprechen und zu analysieren, was die Betreffenden in ihren Köpfen gewälzt haben, denn nur so können sie sich von alten Denkmustern tatsächlich lösen. Diese Denkmuster der SED-Ideologie sind ja nicht aus der Welt. Sie scheinen immer wieder auf, zum Beispiel in der Klage mancher Ostdeutscher: „Was nützt uns die Demokratie, wenn wir keine Arbeit haben?“

Eine genaue inhaltliche Aufarbeitung dieser Geschichte des Denkens ist auch eine unerläßliche Voraussetzung, um die Fragen der Gegenwart diskutieren zu können: Was verstehen wir heute unter gesellschaftlicher Entwicklung? Welche Ziele sind uns heute und für die nächste Zeit vorrangig?

Fragen, die für alle, Ost- und Westdeutsche, gleichermaßen wichtig sind, und die auch bei der Suche nach einer gemeinsamen gesellschaftlichen Moral entscheidend sein werden. Gabriela Simon

freie Journalistin, lebt in Berlin