Ein Höllenspiel von Aufstand und Unterwerfung

Der Tschetschenien-Krieg ist eine Fortsetzung der russischen Kolonialkriege vergangener Zeiten, in denen aus imperialen Gründen nicht nur die Freiheit, sondern auch das Existenzrecht ganzer Völker bekämpft worden ist  ■ Von Erhard Stölting

Für die Tschetschenen ist das russische Vorgehen in ihrem Land die wenig überraschende Fortsetzung eines jahrhundertealten russischen Versuchs, die Kaukasier zu versklaven und, wo das nicht möglich ist, sie auszurotten. Das haßerfüllte Delirieren Schirinowskis ist in diesem Zusammenhang nicht exotisch; es verdeutlicht den geschichtlichen Zusammenhang der russischen Militäraktion mit den antikaukasischen und antimuslimischen Stereotypen, die im Verlauf der Bildung des Russischen Reiches entstanden.

Der modernen Fassung des russischen Stereotyps nach sind die Tschetschenen fanatische islamische Fundamentalisten, Waffenschieber, Rauschgifthändler und Räuber beziehungsweise Mafiosi. Tatsächlich sind die Tschetschenen Muslime, tatsächlich waren sie in den letzten Jahren in Osteuropa überproportional in illegale Geschäfte involviert – meistens aber sagt die überdurchschnittliche kriminelle Aktivität einer ethnischen Minorität mehr über ihre Diskriminierung aus als über ihren Volkscharakter. Das negative Bild der Tschetschenen reflektiert die russische Gewalt und die tschetschenische Gegengewalt: Gute Tschetschenen unterwerfen sich bedingungslos, böse rebellieren. Je gewaltsamer die Unterdrückung, desto mehr hassen die Unterdrücker ihre Opfer. Und wo diese sich wehren, wird ihr Bild vollends entstellt. Die Zuschreibung von Grausamkeit und Hinterhältigkeit reflektiert nur die Angst der Täter vor der Rebellion der Opfer.

Der Nordkaukasus war immer ein Ort der Widerspenstigkeit. Die Herrschaft von Eroberern endete, sobald ihre Heere wieder abgezogen waren. Die Georgier, Perser und Osmanen, die den Nordkaukasus abwechselnd beanspruchten, kontrollierten ihn nie wirklich. Die kaukasischen Völker blieben bis ins 19. Jahrhundert frei – und auf der Hut. Nicht einmal sie selbst schufen größere Reiche; sie beherrschten zumeist nur die eigenen Täler und nicht die der Nachbarn. So entgingen sie assimilatorischem Druck.

Das Christentum hatte die kaukasischen Völker nie ganz durchdrungen. Auch der nachfolgende Islam faßte nur allmählich Fuß. Dagestan im Ostkaukasus wurde allerdings bereits seit dem neunten Jahrhundert islamisiert. Waren in den Hochgebirgsregionen bei Beginn der russischen Eroberung häufig erst die Oberschichten zum Islam bekehrt, während die Hirten noch animistischen Religionen anhingen, stand Dagestan bereits seit langem fest in islamischen Traditionen. Das Arabische war dort Kultursprache. Tschetschenien war bäuerlicher.

So unterschiedlich intensiv der Islam die verschiedenen Regionen des Kaukasus durchdrungen hatte, so unterschiedlich waren die Sozialstrukturen. Einige Völker waren ständisch gegliedert, mit einer sozial distanzierten Oberschicht. Andere, wie die Tschetschenen, waren in Familien und Clans organisiert. Aber alle Gesellschaften waren nach innen strikt patriarchalisch: Männerideal war der todesmutige und großherzige Krieger. Raub galt nicht als Verbrechen. Die Blutrache war sittliche Verpflichtung, die Gastfreundschaft heilig, Großzügigkeit eine Tugend. Es waren diese scheinbar archaischen Züge, die den Bergvölkern jene Würde verliehen, die russische Schriftsteller und ihr Publikum lange faszinierte.

Die Kaukasier immer höher in die Berge drängen

Zu den ersten russisch-kaukasischen Kontakten kam es Mitte des 16. Jahrhunderts. Damals suchten die Kabardiner, die westlich der Tschetschenen lebten, in Moskau Protektion gegen Osmanen und Krimtartaren. Karbardinische Adelige traten in russische Dienste, Iwan der Schreckliche heiratete sogar eine karbadinische Prinzessin. Obwohl die russische Regierung die Bitte um militärischen Beistand immer als Unterwerfung mißverstand, blieb bis zum 18. Jahrhundert der weitere russische Vormarsch sporadisch.

Im 18. Jahrhundert wurde das russsische Vordringen systematisch. Mehrere Khanate in Dagestan unterstellten sich russischer Oberherrschaft. Eine Reihe von Forts, die „kaukasische Linie“, erstreckte sich vom Kaspischen bis zum Schwarzen Meer. Im Vorland wurden Kosaken angesiedelt – Wehrbauern für Rußland.

1774, mit dem russischen Sieg über die Osmanen begann die Eroberung Transkaukasiens, also den südlich des Gebirgszugs liegenden Gebieten, die die heutigen Staaten Georgien, Armenien und Aserbaidschan ausmachen. Der Hohe Kaukasus erschien den Russen als Riegel, dessen Eroberung für das weitere Ausgreifen nach Süden notwendig schien. Durch die Gebiete der Kabardiner und der Osseten führte die georgische Heerstraße, der einzige Landübergang nach Transkaukasien. 1784 entstand die Festung Wladikawkas („Beherrsche den Kaukasus“).

Die Beziehungen zu den Bergvölkern hatten sich inzwischen ständig verschlechtert. Die bäuerliche Zuwanderung aus Rußland und der Ukraine zerstörte die ursprüngliche Hirtenwirtschaft, in der das Vorland die lebenswichtige Winterweide darstellte. Jene Teile der Bergvölker, die im Vorland gelebt hatten, wurden verdrängt und wehrten sich zunächst durch unsystematische Raubzüge bei den russischen Siedlern. Das verstärkte bei diesen den Wunsch nach einer „Pazifizierung“ – eine Konstellation, die jener der weißen Siedler in Nordamerika in ihrem Verhältnis zu den Indianern glich.

1785 bis 1791 kam es zum ersten Guerillakrieg der Tschetschenen und eines Teils der Dagestaner gegen Rußland. Anführer war Scheich Mansur, der sich mit den im westlichen Teil des Nordkaukasus wohnenden Tscherkessen und den Osmanen verbündete. 1791 wurde er gefangen, 1794 starb er in der Festung Schlüsselburg. Mansur war wahrscheinlich ein Führer des Sufi-Ordens der Nakschibendi gewesen, einer mystischen muslimischen Organisation, die im 14. Jahrhundert im mittelasiatischen Buchara entstanden war. Vor dem Aufstand hatte er eine Vision, nach der vom Propheten Mohammed geschickte Reiter ihn zum Imam und zum Führer des Aufstandes erkoren. Er trug von nun an einen Schleier, um seine strahlende Heiligkeit zu verdecken.

Damit hatte der Aufstand seine religiöse Komponente. Nach außen hin war er ein heiliger Verteidigungskrieg gegen Ungläubige, nach innen hin ein Kampf um die Durchsetzung eines strikteren, durch die Sufi-Mystik inspirierten Islam. Das islamische Recht (Scharia) sollte an die Stelle des traditionellen Gewohnheitsrechts (Adat) treten; Wein und Tabak waren verboten, Musik verpönt.

Wie viele asketisch-religiöse Bewegungen hatte auch diese eine soziale Basis. Anfangs beruhte Mansurs Heer auf einem Bündnis mit lokalen Notablen. Viele dieser Oberschichten wurden aber erfolgreich von den Russen umworben. Mansurs Bewegung nahm daher bald sozialrevolutionäre Züge an. Der egalitären tschetschenischen Gesellschaft entsprach das ohnehin. Auch bei den anderen beteiligten Völkern stimulierte die Verbindung von sozialen und religiösen Momenten die kämpferische Opferbereitschaft. Die defensive Rebellion war damit eine Triebkraft der Islamisierung.

Allerdings war der kaukasische Islam etwas Besonderes. Die Überzeugung, daß die Sufi-Führer mit übernatürlichen Wesen kommunizierten, daß sie böse Geister fernhielten, daß sie als schützende Vermittler zwischen Gott und den Menschen wirken könnten, war innerhalb des Islam häretisch, aber sie bestimmte die Volksreligion. Es gab Verehrung von Heiligen und Pilgerfahrten zu ihren Gräbern, zu Kreuzwegen, Hügeln und anderen heiligen Orten. Fast überall erinnerten die Pilgerstätten an Märtyrer, die im Kampf gegen Rußland gefallen waren. So verstärkte die häretische Volksreligion den rebellischen Geist.

Nach 1820 wurde der weniger strikte Sufi-Orden der Qadiriya ebenfalls einflußreich. Imam Gazi Muhammad einte beide Orden im mittleren und östlichen Kaukasus. Er starb 1832 im Kampf gegen die Russen. Sein Nachfolger war der legendäre Schamil vom Volk der Awaren in Dagestan. Er wurde 1834 Imam. Auch er stützte sich primär auf die Dagestaner und Tschetschenen. Er verbot Tanz, Musik und Rauchen und bekämpfte nicht nur die Russen, sondern auch die kooperationsbereiten einheimischen Oberschichten.

Schamil war ein militärisches Genie. Sein Aufstand dauerte über drei Jahrzehnte und kostete Rußland nicht nur Tausende Tote, sondern brachte das Zarenreich auch an den Rand des finanziellen Ruins. Die Russen wandten die Technik der verbrannten Erde an: Sie zerstörten und vernichteten alles, was sie militärisch erreichten. 1859 ergab sich Schamil. Er erhielt ein ehrenvolles Exil in Kaluga und durfte 1870 ausreisen. 1871 starb er im arabischen Medina.

Christen ansiedeln, Muslime vertreiben

Mit Schamils Niederlage war der Aufstand nicht zu Ende. Im westlichen Teil des Hohen Kaukasus leisteten Tscherkessen und Abchaden weiterhin Widerstand. Ihr Kampf hatte ähnliche Motive wie der der Tschetschenen: Die Russen besiedelten die Schwarzmeerküste systematisch mit christlichen Russen und Georgiern und vertrieben oder töteten zu diesem Zweck die einheimische muslimische Bevölkerung.

Der Aufstand der Tscherkessen und der Abchasen wurde 1864 niedergeschlagen und führte zu fürchterlichen russischen Racheaktionen. Die Mehrheit der überlebenden Tscherkessen, etwa 300.000 Menschen, floh ins Osmanische Reich. Dorthin emigrierten auch die meisten Abchasen; Tausende von Tschetschenen, Kabardinern, Karatschaiern und Nogaj-Tataren schlossen sich ihnen an.

Es folgten russische Versuche einer Integration der Kaukasusvölker. Die muslimischen Oberschichten wurden einer nicht vollberechtigten Sonderkategorie des Adels zugeordnet. Viele wurden über den Dienst in Armee und Verwaltung in den Adel kooptiert. Funktionieren konnte das nur bei Völkern, die eine Oberschicht besaßen, also nicht bei den Tschetschenen. 1877/78 brachen in Dagestan und Tschetschenien wieder Kämpfe aus. Auch dieser Aufstand wurde niedergeschlagen.

Für Rußland wurde der Kaukasus derweil über seine geopolitische Bedeutung hinaus immer wichtiger. Das fruchtbare nördliche Vorland war eine Kornkammer geworden. Und es fand sich Erdöl. Grosny wurde nach Baku zur zweiten Erdölstadt Rußlands. Der Kaukasus und sein Vorland wuchsen dem russischen Nationalempfinden ans Herz – nicht jedoch seine Bewohner.

Mit der Oktoberrevolution von 1917 flammte der Kampf im Hohen Kaukasus wieder auf. Die Bergvölker bemühten sich, die Russen zu vertreiben, die sowjetische Regierung reagierte mit Gewalt und mit immer neuen administrativen Grenzziehungen und Konstruktionen von „Autonomen Gebieten“ oder „Autonomen Republiken“. Erst 1925 erstickte die Rote Armee den Aufstand endgültig. Die Scharia-Gerichte und andere islamische Einrichtungen wurden abgeschafft. Sozialismus sollte kulturelle Assimilation bringen. Aber der stalinistische Druck führte zwischen 1928 und 1936 wiederum zu vielen kleinen Revolten. Auch wenn Stalin dann die Kooperation der Kaukasier mit den Deutschen während des Zweiten Weltkrieges übertrieben darstellte – als schlimmster Feind galt im Kaukasus immer Rußland.

1944 wurden die Tschetschenen, die benachbarten Inguschen, die Kabardiner und Balkaren nach Mittelasien und Sibirien deportiert. Sie hatten seit 150 Jahren den erbittertsten Widerstand geleistet. Etwa die Hälfte der Menschen starb schon auf dem Transport an Hunger, Kälte, Krankheit oder an Mißhandlungen. Unter Chruschtschow durften die Überlebenden 1958 zurückkehren und erhielten ihre alten autonomen Gebiete in verkleinertem Umfang wieder.

Die alte Oberschicht und die alte Intelligenz war mit der Deportation liquidiert worden. Ihre Nachfolger waren säkulare Intellektuelle, die in Begriffen der modernen Nation dachten. Die Deportationen waren nämlich offiziell mit dem „Verrat“ als kollektives Verbrechen ganzer Nationen begründet worden. So verstärkten sie die nationale Selbstwahrnehmung. Die Existenz als heimatlose Minderheit in Zentralasien und schließlich die Rehabilitierung durch Chruschtschow machte die nationale Denkform erlebbar und damit überzeugend.

Zugleich entstand ein deutlicher Unterschied zwischen Stadt und Land. In der Landbevölkerung blieb der Islam in seiner kaukasischen Ausprägung lebendig. Die Unterdrückung der Religion und die Schließung der Moscheen hatte die Strukturen der islamischen Orthodoxie geschwächt, aber der Volksislam mit seiner Durchmischung von mystisch-sufischen Elementen konnte sich im Untergrund behaupten. Bereits in den sechziger Jahren begannen die Tschetschenen wieder mit Wallfahrten zu heiligen Gräbern und Hainen. Der KGB berichtete über geheime Umtriebe von Sufi-Orden. Das Potential des Widerstandes war offenbar noch vorhanden.

Die heutigen Rebellen sind Patrioten, keine Imame

Als Dudajew 1991 seinen Amtseid als Präsident des unabhängigen Tschetscheniens auf den Koran ablegte, appellierte er gerade an diese untergründige Tradition. Der Islam verlieh eine tiefere Legitimität, als es freie Wahlen allein konnten. Zugleich war dieser Eid eine Indienstnahme der Religion für nationale Zwecke. Die tschtschenischen Führer sind heute keine Sufi-Imame, sondern moderne Patrioten, die für ihre Selbstverwaltung, ihre Nationalsprache, ihre modernisierte Folklore und ihr nationales Erdöl eintreten. Und Religion wird im Kontext des modernen nationalen Denkens als Element der nationalen Identität funktionalisiert.

Der gegenwärtige Aufstand enthält damit Momente einer Fortsetzung der Rebellionen des 19. Jahrhunderts und zugleich Momente moderner nationaler Befreiungsbewegungen. Für einen nationalen Kampf sind die Tschetschenen gegenüber dem russischen Riesenreich aber zu klein. Nicht einmal der Exzeß an Desorganisation in Rußland kann den russischen Sieg verhindern. Denn das nationale Denken macht nationale Koalitionen prekär und verhindert eine übernationale kaukasische Solidarität.

Auf der anderen Seite könnte die muslimische Basis wichtiger werden. Denn der Krieg in Tschetschenien ordnet sich für die meisten Muslime in einen allgemeinen antiislamischen Krieg ein – in Aserbaidschan, in Tadschikistan, in Bosnien. Vielleicht gelingt es der russischen Regierung, jene Bedrohung real zu machen, die sie bisher nur herbeigelogen hat – ein islamischer Fundamentalismus, der große Koalitionen schaffen kann.