■ Nebensachen aus Moskau
: Vom Geheimnis der russischen Weite

„Simferopol“, zeigt das Schild. Fast mitten in Moskau, vor der Abfahrt zur Ringautobahn. Befremdlich, liegt doch das Städtchen an die anderthalbtausend Kilometer südwestlich auf der Krim. „Für die Urlauber“, meint Wolodja, ohne ein Fünkchen Verwunderung. Man stelle sich vor, auf der Avus wäre Bad Reichenhall ausgeschildert. Nein, St. Johann in Tirol. Denn seit kurzem gehört die Krim zur Ukraine.

Rußland hat ein seltsames Verhältnis zur Entfernung. Das hat einerseits mit der Ungeheuerlichkeit dieser Landmasse zu tun, aber nicht nur. Der Drang, Natur und Zutaten zu unterjochen, ließ Entfernungen schrumpfen – im Bewußtsein. Die verlassensten Flecken sind an den Flugverkehr angeschlossen. Eine Kleinstadt im 100-Kilometer-Umkreis Moskaus anzusteuern, verzehrt dagegen einen ganzen Tag. Eine innerstädtische Adresse aufzutun, gelingt nie auf Anhieb. Straßenschilder kennt man nicht. Natürlich stoßen wir auch auf sie, nur hängen sie nicht dort, wo sie ihren Zweck erfüllten. Die ersten sichtbaren wurden gerade auf der Twerskaja aufgestellt. Ändern sich die Zeiten, könnte der Neuerer ein Fall für den Prokurator werden. Leichtfertig hat er Fremden die Navigation ermöglicht.

Die meisten Russen kennen ihr Land nicht, geben aber vor, damit vertraut zu sein. Hierin liegen Selbsttäuschung und unbestechlicher Realitätsinstinkt. Natürlich kennen sie ihr Land, dessen erdrückende Öde selten eine Auflockerung erfährt. Wo jede Stadt hinter der gleichen ramponierten Fassade stöhnt. Außerdem macht es keinen Sinn, jeden Sumpf zu benennen, da es Landschaften nicht gibt. Das Russische hat dieses Wort aus dem Deutschen entlehnt.

Korrigiert der Fremde topographische Irrtümer, selbst gravierendere wie die Dislozierung geschichtsträchtiger Orte, reagieren sie zutiefst beleidigt. Früher durfte er es nicht, heute kann er es gar nicht kennen, da man ihn nicht eingewiesen hat. Deutet man vorsichtig an: Jener Ort befindet sich inzwischen in einem der neuen Staaten, blickt man in abweisende Gesichter. Der Zustand von Karten und Material ... – nun ja, wir erleben es derzeit in Tschetschenien, wo die Armee mit Faltblättern operiert, die dem „Diversionsstab“ entstammen. Mißtrauen und Geheimniskrämerei um die belanglosesten Dinge sitzen unendlich tief. Verheimlichung als patriotischer Auftrag und prophylaktische Vaterlandsverteidigung selbst noch an der Sanitärfront. Bis ins Mark haben Beamte das verinnerlicht. Jedes unbeantwortete Ersuchen vergrößert den Schatz der Staatsgeheimnisse und befördert die Person zum Geheimnisträger. Während wir eine Antwort auf hypertrophe Bürokratie und lächerliches Machtgebaren entdecken. Verschwiegenheit auf der einen korrespondiert mit aufdringlicher, geradezu inquisitorischer Unerbittlichkeit derselben Spezies auf der anderen Seite. Anstand kennt sie nicht, höchstens Launen der Reserviertheit.

Die offizielle Kriegsberichterstattung liefert den besten Anschauungsunterricht. In Mosdok, dem Koordinationszentrum der Armee, war über Stunden kein Ansprechpartner aufzutun. Der Kommandeur schließlich: Der ganze Kaukasus ein einziges Zuschußgebiet! Lohnt es sich, deshalb einen KRIEG vom Zaun zu brechen? Schweigen. Offenkundig fehlten die richtigen Karten. Sie erlagen ihrer eigenen Geheimnisträgerei. Womöglich findet sich nur in Rußland Altruismus übermenschlichen Maßes. Klaus-Helge Donath