Die Demaskierung des Mythos Marcos

■ Die Skimütze machte „Subcomandante Marcos“ zur Identifikationsfigur. Bedeutet seine Enttarnung das Ende der „ersten postkommunistischen Revolte“?

Der Bann scheint gebrochen. Drohgebärden und Säbelgerassel hatten zwar den dreizehnmonatigen Ausnahmezustand im mexikanischen Südosten immer wieder begleitet – entscheidend für die jüngste präsidiale Kriegserklärung aber ist die Enttarnung des charismatischen Zapatisten-Führers, der bislang als Subcomandante Marcos die Herzen der (nicht nur) mexikanischen Öffentlichkeit erobert hatte. Stolz „enthüllte“ Präsident Zedillo am Donnerstag in einer Fernsehansprache erstmals die bürgerliche Identität seines subversiven Widersachers: Dieser sei als Rafael Sebastian Guillén Vicente vor 37 Jahren im Bundesstaat Tamaulipas geboren, habe als Junge ein Jesuitenkolleg besucht und später in Mexiko-Stadt Journalistik studiert.

Selbst die mutmaßliche Mutter des Subcomandante legte vor den Fernsehmikrofonen ihr Zeugnis ab. „Er war kein schlechter Junge“, verteidigte Socorro Vicente Guillén ihren Sohn, nur leider habe sie seit drei Jahren nichts mehr von ihm gehört.

Ob die spektakuläre Enthüllung – zusammen mit vier anderen zapatistischen Führern – nur eine neue Inszenierung auf der mexikanischen Politbühne darstellt oder diesmal tatsächlich den Tatsachen entspricht, kann zur Stunde weder bestätigt noch widerlegt werden. Die – bislang eher spärlichen – Bausteine zur Identität des Maskierten entsprechen dabei durchaus den unzähligen Spekulationen des letzten Jahres: der jesuitische Einschlag, die journalistische Vorbildung und, vor allem, die mexikanische Staatsbürgerschaft.

Die offizielle Behauptung, daß man diese Angaben erst am Vortag aufgrund der Aussage von verhafteten Zapatistas erhalten habe, erscheint allerdings wenig glaubwürdig oder wirft ein denkbar schlechtes Licht auf die Effizienz mexikanischer Geheimdienste.

Entscheidend für das Kalkül der militärischen Offensive aber ist die Demaskierung des Mythos: Nach einer magischen Skimütze ließ sich bislang kaum ernstlich fahnden, ein gewöhnlicher Sterblicher mit Namen und Fahndungsfoto aber läßt sich der Öffentlichkeit viel eher als linksextremer Gewalttäter präsentieren und mit ebenso gewöhnlichen polizeistaatlichen Mitteln verfolgen. Der Haftbefehl auf den Subcomandante stellt nicht den ersten, wohl aber den bei weitem wirkungsvollsten Versuch dar, die Aura des ebenso charmanten wie charismatischen Guerilleros zu demontieren.

Zur Erinnerung: Zu Beginn des Aufstands vor einem Jahr war Marcos – dessen groteskes Phantombild in den ersten Tagen von 1994 über die Bildschirme flimmerte – als „ausländischer Terrorist“ und die Zapatisten-Bewegung als „importierte Gewalttäter“ diffamiert worden, allerdings vergeblich. In einer beispiellosen Polit- und Presseoffensive hatten die indianischen Guerilleros und ihr weißer Sprecher in weiten Teilen der sogenannten Zivilgesellschaft Sympathien für ihren Kampf um „Würde“ und „Demokratie“ gewonnen, nicht trotz, wie viele Beobachter meinen, sondern gerade wegen ihrer Maskierung.

Denn erst das verhüllte Antlitz machte Marcos zur Identifikationsfigur für alle im Lande, die der jahrzehntelangen PRI-Herrschaft überdrüssig sind – der rebellische Virus hatte schließlich auch große Teile der nicht-indianischen Öffentlichkeit infiziert. Zweifellos war schon seit dem umstrittenen Wahlsieg der Regierungspartei im August und besonders seit der zapatistischen Kriegserklärung im Dezember – als die EZLN anläßlich des Amtsantritts des PRI-Gouverneurs Robledo in Chiapas den Waffenstillstand aufkündigte – ein allmählicher Imageverfall der Zapatisten-Armee und ihres Sprechers zu spüren. Dieser wurde in der Landespresse zunehmend als „unversöhnlich“, „launisch“ und selbst von ehemaligen Sympathisanten als „fundamentalistisch“ kritisiert.

Der hilflose Versuch, den sub Ende Dezember auch noch für die überfallartige Peso-Abwertung zum Buhmann der Nation zu machen, schlug allerdings fehl. Nicht Marcos verschwand wenige Tage später von der politischen Bühne, sondern der tatsächlich Verantwortliche, Wirtschaftsminister Serra Puche.

Was auch immer das Kalkül hinter den spektakulären Haftbefehlen sein mag, die Spielregeln in Chiapas haben sich seit Donnerstag radikal verändert. Denn schließlich stellten die bisherigen Dialogversuche mit den maskierten Guerilleros, die Akzeptanz ihrer Skimasken, ein in Lateinamerika einzigartiges Zugeständnis der mexikanischen Regierung dar: die – erzwungene – Anerkennung der zapatistischen Anliegen, der Verzicht auf eine schnelle militärische Lösung und auf die Verhaftung ihrer „Rädelsführer“. Diese „softe“ Linie ist nun vorbei.

So läßt sich die Zedillo-Offensive auch als späte Rache für die erste „postkommunistische Revolte“ (Carlos Fuentes) verstehen, die den Take-off des mittelamerikanischen Musterländles vor einem Jahr so bös zu Fall gebracht hatte: Waren die Maskierten am 1. Januar 1994 angetreten, das korrupte Politsystem und die mexikanische Lebenslüge von der postrevolutionären Harmonie zu „demaskieren“, so hat ihnen das neue Staatsoberhaupt jetzt im Gegenzug die Masken vom Gesicht gerissen – um sie wieder zu gewöhnlichen Kriminellen zu machen. Ob die Rechnung aufgeht, bleibt abzuwarten. Anne Huffschmid