„Zum Schutz der Bevölkerung“

Mexikanische Regierungssoldaten durchkämmen den lacandonischen Urwald auf der Suche nach Subcomandante Marcos und der Zapatistenführung  ■ Aus Chiapas Ralf Leonhard

Wo die kiefernbestandenen Hänge des Hochlandes allmählich in den Laubwald des lacandonischen Urwaldes übergehen, liegt La Estrella – zwei Dutzend Hütten am Rande der Straße und über einen kleinen Hügel verstreut. Die Ortschaft ist so klein, daß sie nicht einmal auf detaillierten Karten von Chiapas eingezeichnet ist. Jetzt ist sie auch keine Eintragung mehr wert: Hier wohnen nur noch die Hunde, Hühner und Schweine, die die Einwohner auf der Flucht vor der Armee zu Hause zurückgelassen haben.

Der Ort befindet sich drei Stunden westlich von Ocosingo, tief innerhalb jener Zone, die der Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) von der mexikanischen Regierung bis zum 8. Februar als Rückzugsgebiet zugestanden wurde. Kurz nachdem Präsident Ernesto Zedillo die Ergreifung der Zapatistenführer anordnete und das Militär in den lacandonischen Urwald schickte, fanden die Soldaten in La Estrella nur noch leere Hütten vor – wütend stellten sie auf den Kopf, was sie finden konnten.

Das war nicht viel. Eine Broschüre der Menschenrechtskommission über die Rechte der indigenen Bevölkerung dürfte die Flüchtlinge hinreichend als Sympathisanten der Zapatisten ausgewiesen haben.

In einem Haus, wo ein Gesundheitsberater gewohnt haben muß, liegen Antibiotika und andere Medikamente über den Boden verstreut. Ein alter Schwarzweißfernseher Marke Gold Star wurde aus der Wand gerissen. Ein Schulheft auf dem Boden enthält die ersten schriftlichen Gehversuche eines Tzeltal-Kindes: „ba-be-bi-bo-bu; ixim, oxom, chlum, achlix, uklum...“. Die hölzernen Wände eines Zimmers sind mit ausländischen Zeitungen tapeziert, darunter Le Figaro und die Zürcher Wochenzeitung vom vergangenen Dezember mit einer Reportage aus Haiti.

Am Rande von La Estrella hat die Armee einen Stützpunkt errichtet. Die Soldaten haben sich hinter Sandsäcken verschanzt und ihre Stellungen mit Tarnnetzen verkleidet, als müßten sie einen Luftangriff fürchten. Sie winken die wenigen vorbeikommenden Fahrzeuge durch. Immer wieder kommen Jeeps und Panzerfahrzeuge entgegen, Lastwagen voller Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag.

Ihr größtes Lager haben die Militärs in Taniperlas errichtet, fast fünf Stunden westlich von Ocosingo, wenige Kilometer, bevor die löchrige Sandstraße endet. Mindestens ein Bataillon ist hier stationiert, ausgerüstet mit mehreren Dutzend Jeeps, Panzerfahrzeugen, leichter Artillerie, Baumaschinen zur Straßenräumung, einer Flugpiste – und einem Feldbordell.

General Manuel Sanchez Aguilar, der die Einheit befehligt, bestreitet, daß die Armee die Prostituierten hätte kommen lassen: „Die folgen uns wie die Fliegen. Schließlich ist das ein ausgezeichnetes Geschäft.“ Doch die Frauen in kurzen Höschen, langen Stiefeln, nicht mehr ganz intakten Perlonstrümpfen und mit grellem Lippenstift, die einem Lastwagen entsteigen, beteuern, sie seien auf Wunsch der 29. Division aus der Hafenstadt Veracruz angereist. Das Ventil für die sexuellen Energien der frustrierten Soldaten sorgt immerhin dafür, daß die Mädchen im Dorf nicht belästigt werden.

„Wir sind hier, um die Bevölkerung vor der Kriminalität zu schützen“, versichert der General. Nicht wegen Marcos, sondern wegen der Kriminellen? Naja, gibt er zu, so viele Verbrechen gebe es in der Gegend zwar tatsächlich nicht, aber mit der Jagd auf die Zapatistenkommandanten hätte er wirklich nichts zu tun.

Einer der gefährlichen Kriminellen, vor denen die Bevölkerung geschützt werden muß, ist Lorenzo Hernandez Velasquez, ein 55jähriger Kaffeebauer, der auch eine bescheidene Rinderherde sein Eigen nennt. Er war am 10. Februar gerade auf seiner Pflanzung beschäftigt, als eine Gruppe von Soldaten auf ihn zukam und ihn anschrie: Wirf die Machete weg! Die Uniformierten hielten ein paar Pflanzen in den Händen, von denen sie behaupteten, sie hätten sie gerade auf seinem Grund ausgerissen. Weißt du nicht, daß Marihuana illegal ist? Hast du noch mehr davon? Hernandez beteuerte, er wüßte nicht einmal, wie Marihuana aussehe und versicherte, er hätte es nicht angebaut. Dann schlugen ihn die Soldaten mit den Gewehrläufen in den Nacken und herrschten ihn an, er solle verraten, wo sich Marcos versteckt hielte. Vergebens jammerte der Bauer, er hätte den berühmten Maskierten nie gesehen und hätte keine Ahnung, wo er sich aufhielte.

Lorenzo Hernandez wurde einen Tag lang bei brütender Hitze in einen engen Wagen gesperrt und dann im Hubschrauber zum Gericht nach Palenque geflogen, wo er nochmals verhört und nach den Zapatisten ausgefragt wurde. Einen Dolmetscher bekam der Tzeltal-Indianer, der des Spanischen kaum mächtig ist, nicht zu sehen. Schließlich landete er im Gefängnis von Cerro Hueco in der Hauptstadt von Chiapas, Tuxtla Gutiérrez. Die Anklage lautete: Vergehen gegen die öffentliche Gesundheit.

Nach fast zwei Wochen setzte ihn der Richter gegen eine Kaution von rund tausend Dollar auf freien Fuß. Das kostet Hernandez mindestens zehn Rinder. Der Anwalt knöpfte ihm nochmals eine ähnliche Summe ab.

Hernandez ist nicht der einzige, der mit dem Marihuana-Trick festgenommen wurde. Auch Leute aus den Gemeinden Perla de Acapulco und Zapotal berichten, daß Soldaten sie gebeten hätten, ihnen etwas zum Rauchen zu besorgen. Da sie sich jedoch nicht in die Falle locken ließen, rückten die Militärs mit ihrem eigentlichen Anliegen heraus: Wo verbirgt sich Marcos?

Der legendäre Subcomandante hat auch nach der Veröffentlichung eines Fotos, das angeblich den wahren Marcos ohne Maske zeigt, nichts von seinem Charisma eingebüßt. In einem seiner berühmten Briefe schrieb er vor kurzem, eine Patrouille von dreißig Soldaten sei bis auf zehn Schritte an sein Versteck herangekommen, hätte ihn aber nicht entdeckt.

Aus Rache haben die Militärs sämtliche Stromleitungen gekappt, die in die entlegenen Gemeinden führen. Damit haben sie erreicht, daß Marcos seinen Laptop-Computer und sein mobiles Telefon nicht mehr aufladen kann, die es ihm ermöglicht hatten, seine Botschaften via Internet jederzeit um die Welt zu schicken. Seine Kommuniqués brauchen jetzt drei Tage, bis sie in San Cristóbal de las Casas ankommen.

Während im Kongreß in Mexiko-Stadt am Donnerstag beschlossen wurde, die Haftbefehle gegen die Zapatista-Comandantes auszusetzen, falls sie zu einem Dialog bereit wären, versuchten die Militärs mit allen Mitteln, den wichtigsten Gesprächspartner zum Gefangenen zu machen. Von den Straßen her arbeiteten sich bewaffnete Spähtrupps weiter in den Urwald, um den vermutlichen Bewegungsradius der Zapatistenchefs immer mehr einzuengen. Die Haftbefehle wegen Rebellion, krimineller Vereinigung und Hochverrat wurden bisher nicht aufgehoben.

Der Armee geht es auch darum, mit den Symbolen des Zapatismus aufzuräumen. In Aguascalientes, wo im August der von der EZLN einberufene „Nationale Demokratische Konvent“ mit über 5.000 Vertretern der zivilen Opposition stattfand, haben die Soldaten das Podium in Form eines Schiffes und die für die Delegierten aufgestellten Hütten, deren Errichtung drei Wochen gedauert hatte, in zwei Tagen dem Erdboden gleichgemacht und auf den Ruinen ein Lager aufgebaut.

Die wichtigste Aufgabe der Armee scheint derzeit darin zu bestehen, die Flüchtlinge, die letztes Jahr bei Beginn des Aufstandes aus den von den Zapatisten kontrollierten Zonen wegzogen, wieder in ihren Gemeinden anzusiedeln oder in anderen Gemeinden, die von vermutlichen Sympathisanten der Zapatisten geräumt wurden.

Die Tageszeitung La Jornada berichtet, daß diese Familien umgerechnet tausend Dollar für das unrechtmäßig in Besitz genommene Grundstück zu bezahlen hätten. Viele können sich aber nicht einmal die 500 Pesos (hundert Dollar) Anzahlung leisten. Die „Medizinische Menschenrechtskommission“ (COMEDH), die den Flüchtlingen in den Wäldern beisteht, erkannte, daß mit dieser Politik neue Konflikte heraufbeschworen würden und protestierte gegen die massive Ansiedlung von Bauern in verlassenen Gemeinden: „Es wird eine Atmosphäre gegenseitiger Denunzierungen, Revanchismus und Lynchjustiz geschaffen, die Brüder gegen Brüder aufbringen wird.“

Die Schauspielerin Ofelia Medina, die jedem Mexikaner aus den Telenovelas – den Endlosromanen im Fernsehen – bekannt ist, verbrachte eine Woche in der Gemeinde La Realidad, jenseits von Guadalupe Tepeyac. Tief erschüttert berichtete sie nach ihrer Rückkehr nach San Cristóbal von der Flucht vor den Militärs, die von ihren Panzerfahrzeugen aus mittels Lautsprechern verkündeten: „Wir bringen euch den Frieden!“ Sie erzählte von den verheerenden Bedingungen in den Wäldern, wo die Leute den Abzug der Armee abwarteten: „Praktisch alle Kinder leiden an Durchfall, es gibt nichts zu essen und keine Medikamente.“ Und wenn die Dörfer verlassen sind, kommen die Viehzüchter im Schutz der Armee und treiben die Rinder davon.

Nach und nach kommen zwar Nahrungsmittel und Medikamente ins Konfliktgebiet. Als ein Lastwagen, vollbeladen mit Reis, Bohnen, Zucker, Maismehl, Öl, Kleidung und Kinderspielzeug, nach Einbruch der Dunkelheit in Agua Azul eintraf, reagierten die Dorfbewohner jedoch mißtrauisch. Sie hätten nicht um Hilfe gebeten. Wie sich herausstellte, funktioniert der Nachschub bestens. Die Bauern von Agua Azul verkaufen ihren Kaffee an Händler, die aus dem fünf Stunden entfernten Ocosingo kommen und haben dafür ihre Läden voll mit Pepsi-Cola und billigem Zuckerrohrschnaps Marke Jaguar.

Echten Mangel leiden hingegen die Einwohner des anderthalb Maultierstunden entfernten Dorfes Perlas de Acapulco, die nach einem schlechten Winter nichts zu essen haben und ihren Kaffee kaum besser als zum Selbstkostenpreis losschlagen können. Denn abseits der befahrbaren Straßen müssen sie ihre Produkte an die Kollegen in Agua Azul verkaufen, die ihrerseits wieder von den Zwischenhändlern aus Ocosingo übers Ohr gehauen werden.

Perlas de Acapulco wurde vor über dreißig Jahren von landlosen Bauern aus dem Hochland besiedelt. Obwohl jede Familie zwanzig Hektar ehemaligen Waldbodens bewirtschaftet, leben die meisten in primitivsten Verhältnissen. Ohne Strom und Verkehrswege haben sie auch keine Möglichkeit, der Armut zu entrinnen. Schon fast vergessen scheint, daß es genau das war, was vor über einem Jahr mit dem Aufstand der Zapatistas der Weltöffentlichkeit erzählt wurde.