„Nur 50 Prozent der Hilfe kam durch“

■ Interview mit dem Bürgermeister von Srebrenica, Osman Suljić, über die Lebensbedingungen in der Stadt / 30.000 Vertriebene aus anderen Ortschaften

taz: Die Informationen über die Lage in der Enklave Srebrenica fließen nur spärlich. Wie ist die Situation der Bevölkerung jetzt?

Osman Suljić: Um das Bild etwas zu erhellen, möchte ich als erstes anführen, daß nur 50 Prozent der humanitären Hilfe im letzten Jahr angekommen ist. Obwohl die UNO-Hilfsorganisation UNHCR versprochen hat, regelmäßig die notwendigen Lebensmittel, Medikamente und andere Artikel zu liefern, war das Soll niemals erreicht. Die Mengen, die hereinkommen, reichen bei weitem nicht aus, um 43.000 Menschen zu ernähren. Darüber hinaus mangelt es an Kleidung und Schuhen. Vor allem Kinder sind davon betroffen.

Ein anderes großes Problem ist die Zerstörung des Wohnraums durch den Krieg. 30.000 Vertriebene aus Zvornik, Bratunać, Cerska, Vlasenica, Goražde und Foca leben hier in der Enklave, mindestens 5.000 von ihnen haben kein Dach über dem Kopf, sie mußten in Garagen, Kellern und Höhlen unterschlüpfen. Immerhin hat ein schwedisches Hilfsprojekt Notunterkünfte für 2.000 Menschen geschaffen.

Welche gesundheitlichen Probleme gibt es angesichts dieser Bedingungen?

Abgesehen von dem Salzmangel, der wegen der Zusammensetzung unseres Wassers zur Schwächung des Immunsystems führt, sind die Voraussetzungen für die Bekämpfung von Seuchen besser geworden. Die Zahl der Krankheiten aufgrund von Infektionen und Epidemien hat sich vermindert, Tuberkulose und Gelbsucht sind jedoch nicht gebannt, es gibt einen Fall einer sehr gefährlichen Art von Typhus. Würde der Erreger dieser tödlichen Typhusart sich ausbreiten, wären wohl viele Menschen hier verloren. Nach wie vor leiden viele von uns an Grippe, Durchfall und Nierenkrankheiten. Es mangelt an Impfstoffen, Babynahrung, Medizin gegen Nierenleiden etc. Für 43.000 Menschen stehen uns nur fünf Ärzte zur Verfügung.

Hinzu kommt, daß die Region wieder militärisch angegriffen wird. Die Streitkräfte des Aggressors werden dieser Tage umgruppiert, und es gibt eine Reihe von Zwischenfällen, vor allem im Südwesten, wo die Tschetniks vor kurzem 1,5 Kilometer Terrain der UN-Schutzzone erobert haben.

Seit fast zwei Jahren sind Sie gänzlich eingeschlossen. Wie kann da eine Gemeinde existieren? Wie steht es zum Beispiel mit den Schulen und der Erziehung der Kinder?

In dem Gebiet von Srebrenica gibt es vier große und acht kleinere Elementarschulen. 5.700 Kinder gehen regelmäßig zur Schule. Wir haben 180 Lehrer, also Leute, die unterrichten. Viele sind nicht dafür ausgebildet. Die Lehrer arbeiten unbezahlt. Es fehlt an Räumen, Heizung, Schulheften, Büchern, Schreibmaterialien. Immerhin konnten wir für das neue Schuljahr 1994 jedem Kind ein Heft und einen Kugelschreiber zur Verfügung stellen.

Aber wir geben nicht auf. Jetzt haben wir damit begonnen, eine allgemeine Oberschule, eine technische Oberschule und eine Wirtschaftsoberschule zu gründen. 700 Kinder werden in das Oberschulprogramm aufgenommen. Unsere Kinder sollen, so gut es geht, auch während des Krieges ausgebildet werden.

Wie sieht es in der Landwirtschaft aus?

Seit wir den Hunger kennengelernt haben, versuchen wir, jedes Fleckchen Boden auszunutzen. Srebrenica war aufgrund der gebirgigen Lage und der Bodenbeschaffenheit niemals ein landwirtschaftlich ertragreiches Gebiet. Im Herbst letzten Jahres haben wir von der UNHCR 55 Tonnen Saatgut erhalten und ausgesät. Das brachliegende Land, das von den Alteinwohnern nicht beansprucht wird, ist an die Flüchtlinge verteilt worden. Zusammengenommen sind auf 540 Hektar Weizen und auf 80 Hektar Roggen ausgesät worden. Es fehlt an Düngemitteln und Pflanzenschutzmitteln. Wir hoffen aber, daß die UNHCR uns im Frühling mit mehr Saatgut versorgt. Erich Rathfelder