Im Namen des Volkes: Sitzen bleiben!

■ Bundesverfassungsgericht revidiert eigenes Urteil: Sitzblockaden sind keine Nötigung mehr

Karlsruhe (dpa/taz) – Friedliche Sitzblockaden vor militärischen Einrichtungen sind keine Gewalt und dürfen nicht mehr als Nötigung bestraft werden. Mit dieser gestern veröffentlichten Entscheidung erklärte das Bundesverfassungsgericht die bisherige Spruchpraxis der Strafgerichte für verfassungswidrig. Es sei eine unzulässige Ausweitung des Gewaltbegriffs, wenn dafür bereits „die körperliche Anwesenheit an einer Stelle“ genüge, „die ein anderer einnehmen oder passieren möchte“.

Der Beschluß – gegen den drei der acht Richter des Ersten Senats stimmten – gilt nicht nur für Sitzblockaden vor militärischen Einrichtungen, sondern für sämtliche Sitzdemonstrationen. Allerdings bleibt deren Rechtswidrigkeit nach anderen Vorschriften, beispielsweise Verkehrs- oder Versammlungsrecht, davon unberührt.

Mit dieser Entscheidung haben die Karlsruher Richter ihre eigene Rechtsprechung aus dem Jahre 1986 aufgegeben. Damals hatte der Erste Senat die weite Auslegung des Begriffs der Gewalt und damit die Strafbarkeit der Sitzblockaden für zulässig erklärt. Danach war Gewalt gegeben, wenn die auf das Opfer „ausgeübte unausweichliche Zwangswirkung den Einsatz einer gewissen, wenn auch geringfügigen körperlichen Kraft durch den Täter“ einschließe. Eine Prozeßlawine für die DemonstrantInnen in Mutlangen und anderswo war die Folge des Urteils.

Mit fünf zu drei Stimmen entschied nunmehr das Bundesverfassungsgericht anders. Die Ausdehnung des Gewaltbegriffs habe dazu geführt, daß die Bürger als Normadressaten nicht mehr hätten vorhersehen können, „welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist“. Damit seien den Strafrichtern beträchtliche Spielräume eröffnet. Das werde belegt durch die unterschiedliche Behandlung von Blockadeaktionen aus Protest gegen die atomare „Nachrüstung“ einerseits und solchen zum Protest gegen Werksstillegungen oder Gebührenerhöhungen andererseits. In der Regel waren lediglich die Gegner der Atomrüstung, nicht aber die Teilnehmer an anderen Sitzdemonstrationen wegen Nötigung verurteilt worden.

Der Ausgangsfall dieser Entscheidung war die Verurteilung von vier Atomrüstungsgegnern wegen ihrer Beteiligung an einer Blockadeaktion vor dem Sondermunitionslager der Bundeswehr in Großengstingen im Mai 1983. Sie waren zwar vom Landgericht Tübingen freigesprochen, nach der Revision beim Oberlandesgericht Stuttgart und einer entsprechenden Entscheidung des Bundesgerichtshofs später jedoch wegen Nötigung zu Geldstrafen verurteilt worden.

Die Karlsruher Entscheidung zeigte gestern bereits erste Wirkungen in der Justiz. Die mehrfach angeklagte und verurteilte 81 Jahre alte Atomtestgegnerin Elisa Kauffeld aus Schortens (Kreis Friesland) muß nun nicht wie angeordnet an diesem Donnerstag vor dem Amtsgericht Bonn erscheinen. Sie ist dort wegen einer Sitzblockade vor der chinesischen Botschaft im Jahr 1993 aus Protest gegen Atomwaffenversuche angeklagt. (Aktenzeichen: 1BvR 718/89, 719/89, 722/89, 723/89 – Beschluß vom 10. Januar 1995)

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