■ Byzanz oder Konstantinopel
: Mit deutschen Augen

„Wahrlich, die Türken werden Konstantinopel erobern!“ Mit diesem Hadith des Propheten Mohammed beginnt Wolfgang Günter Lerch sein Buch „Istanbul“. Dieses Buch ist kein gewöhnlicher Stadtführer für Istanbul-Reisende. Es sind die Reflexionen eines der wenigen Deutschen der schreibenden Zunft, der „Istanbul hören kann, geschlossen die Augen“, fast wie Orhan Veli. Der bedeutendste Istanbuler Dichter der neueren Zeit. Er starb nach einer Raki- Ekstase. In den Zeiten der Überflieger und Scharlatane ist Lerch eine absolute Rarität mit fundierten und differenzierten Kenntnissen über die Türkei und Istanbul.

Das Buch hat sieben Kapitel. Istanbul ist auf sieben Hügeln gebaut. Es ist fast immer eine Anmaßung, über eine Stadt zu schreiben, ohne in ihr zu leben, sie zu erleben. Das ist wie Sex nach schlecht übersetzter fernöstlicher Gebrauchsanweisung. Das tut man einer Stadt wie Istanbul nicht an. Denn sie ist die erotischste Urbanität und die häßlichste Schönheit der Welt zugleich!

Lerch ist ausgewiesenermaßen kein blinder Türkeiliebhaber. Aber auch er scheint von der Haßliebe zu dieser Stadt ergriffen zu sein. Er kann nicht von ihren Schönheiten erzählen, ohne ihre degenerierten Realitäten zu übersehen. Auch für ihn bleibt Istanbul ein Geheimnis. Aber kein geschlossenes Buch mit sieben Siegeln. Er benennt die krassen Widersprüche, die in dieser Stadt allgegenwärtig existieren: Reichtum und Armut, Glanz und Elend, architektonische Weltwunder und hastig errichtete Slumhäuser. Er beschreibt feine „Alt-Istanbuler“ ohne Artenschutz und den Extremismus, der mit einigen der „Fremden“ aus dem unterentwickelten Osten mit all ihren archaischen Sitten und Gebräuchen in die Stadt gekommen ist. Lerchs Analyse ist geprägt von historischer Sachkenntnis und soziologischer Genauigkeit. Er läßt sich von den Widersprüchen der Stadt nicht verwirren.

Lerch beschreibt Istanbul nicht nur, er sucht nach dem Verborgenen, auch wenn er dieser unheimlichen Stadt nur einen Teil ihrer Rätsel entlocken kann.

Das gut lesbare, 108seitige, gebundene Buch ist mit ungewöhnlichen Photographien von Hermann Dornhege illustriert.Bülent Tulay

Wolfgang Günter Lerch: „Istanbul“, 1995, Benzinger Verlag, Solothurn und Düsseldorf, 39,80 DM