Die Orthographie des Geheimdiensts

■ Literarisches Talent und politische Renitenz hängen doch zusammen: Mit 20jähriger Verspätung ist die DDR-Anthologie „Berliner Geschichten“ erschienen

Im Spätsommer 1973 wirft sich der Schriftsteller Hans Ulrich Klingler in den Trubel inszenierter Weltoffenheit während der „Weltfestspiele der Jugend und Studenten“ in Berlin und schreibt eine Erzählung über seine Erlebnisse. „Ich bin kein Staatsfeind. Ich bin Delegierter. Die Regierung lächelt mir zu. Ich lächle der Regierung zu“, läßt er den Erzähler sagen, der sich über den Großmut des Genossen Ulbricht freut: „Mit seinen letzten Worten gedachte er unser und rief uns vom Sterbelager aus zu: Feiert Freunde die Feier / rufet vivat, hoch und hick / wenn auch des Todes Nebelschleier / trübet meinen Blick.“

Klingler mußte wissen, daß kein Verlag der DDR diese Majestätsbeleidigung jemals hätte durchgehen lassen. Anders mochte es bei den Herausgebern jener Anthologie sein, deren Vorbereitung Partei, Staat, Schriftstellerverband (SV) und Stasi auf den Plan rief. Klingler nahm die Einladung zur Teilnahme an. Hier konnte er tatsächlich mit mehr Toleranz rechnen, allerdings auf Kosten des Erscheinungsdatums: Mit zwanzigjähriger Verspätung ist die Anthologie „Berliner Geschichten“ kürzlich erschienen.

Die Idee zu einer Sammlung von Berlin-Geschichten, die unabhängig vom staatlich gelenkten Literatur- und Zensurbetrieb allein in der Regie der teilnehmenden Autoren gedeihen sollte, entstand zu einer Zeit, als im Auf und Ab der politischen Repression gerade wieder einmal Tauwetter eingesetzt hatte. Ulbricht war 1971 entmachtet worden, und Honecker sprach davon, daß es in der Literatur keine Tabus mehr geben dürfe.

1974 luden Ulrich Plenzdorf, Klaus Schlesinger und Martin Stade eine Reihe von Kollegen zur Mitarbeit ein. Stefan Heym, Günter de Bruyn und Christa Wolf sagten sofort zu, und bald waren über 200 Manuskriptseiten bei den Herausgebern eingegangen. Jeder Autor sollte alle Texte lesen, dann sollte zusammen beraten werden. Ein aufwendiges Verfahren, auch in technischer Hinsicht, wenn man an die Vervielfältigungs- und Kommunikationsmöglichkeiten im realen Sozialismus denkt.

Mittlerweile hatte die Stasi von dem Vorhaben Wind bekommen und setzte ihre Spitzel auf die Herausgeber an, was die Anthologie unfreiwillig um eine Erzählung bereichert hat – um die Geschichte ihrer (vorläufigen) Verhinderung, die in dem Band mit einem üppigen Anhang von Stasi- und SV- Akten dokumentiert ist. Dabei waren die Herausgeber und die beteiligten Autoren keineswegs Staatsfeinde, viele sogar Mitglied in der SED. Doch ging es ums Prinzip. Nach zwei Jahren „gezielter Zersetzungsmaßnahmen“ gaben die Herausgeber auf.

Heute steht der Leser vor der Frage, ob sich die verspätete Herausgabe – unabhängig vom zeitgeschichtlichen Zeugniswert – gelohnt hat. Wie beinahe jede Anthologie ist der Band ein Ergebnis von Kompromissen. Die 18 Geschichten sind von unterschiedlicher Güte.

„Leseland DDR“ – eine Verklärung

Zu den eindringlichsten Texten gehört Günter de Bruyns unspektakuläre Eingangsgeschichte „Freiheitsberaubung“. Lakonisch erzählt der Autor von einer Frau, die es in ihrer von Ratten wimmelnden Wohnung nicht mehr aushält und das Verhältnis zu einem verheirateten Betriebsdirektor ausnutzt, diesem Zustand abzuhelfen.

Den kunstvoll verstellten Blick, den Ulrich Plenzdorf in seinem Text „kein runter kein fern“ auf die DDR-Wirklichkeit wirft, hielt die Gutachterin des SV für eine „mordsmäßige Schweinerei“, der SED-Chef von Ost-Berlin, Konrad Naumann, erklärte in Anspielung auf Plenzdorf, daß „für Lockenköpfe kein Platz mehr in der Partei“ sei. Wenig Gnade fanden auch die Erzählungen von Klaus Schlesinger und Gert Neumann (Härtl) in den Augen von Partei und Stasi.

Daß – mit der gewichtigen Ausnahme von Stefan Heym – die politisch heiklen Texte zugleich auch die erzählerisch interessantesten sind, bestätigt die Beobachtung, daß es einen inneren Zusammenhang zwischen literarischem Talent und politischer Renitenz gibt. Was an Proletkult-Verschnitt ansonsten im Band versammelt ist, wird höchstens als Zeitzeugnis überdauern.

Dagegen ist Joachim Walther mit seinem Beitrag „Entlassungsgesuch“ eine eindrucksvolle Parabel auf die Flucht des von der Wirklichkeit überforderten Geistes in der Region falscher Gewißheiten gelungen. Nicht nur aus literarischen Gründen ist es ein Verdienst, das angestaubte Konvolut ans Licht der Öffentlichkeit gebracht zu haben. Auch die exemplarische Dokumentation des Zusammenspiels der verschiedenen Instanzen, die an der Verhinderung der Anthologie beteiligt waren, ist hilfreich, um die nostalgische Vorstellung vom „Leseland DDR“ ins rechte Licht zu setzen.

Die Lektüre des Dokumentenanhangs bietet übrigens ein Vergnügen besonderer Art: Orthographische Varianten in den geheimdienstlichen Unterlagen wie „provitiert“, „resimüren“ und „verklausoliert“ nähren den Verdacht, daß hinter der aktuellen Rechtschreibreform niemand anders als die Stasi steckt. Warten wir den nächsten Spiegel-Titel ab! Peter Walther

U. Plenzdorf, K. Schlesinger, M. Stade (Hg.): „Berliner Geschichten. Operativer Vorgang Selbstverlag“. Suhrkamp, 317 S., 17,80 DM