Die verschobene Entlassung des Watschenmannes

■ Ohne Andrej Kosyrew gerät die russische Außenpolitik in eine Schieflage. Im Innern fehlt der neutralisierende Sündenbock, nach außen das liberale Türschild

Berlin (taz) – Kaum war er wieder einmal frisch repariert aus dem Krankenhaus zurück, hatte der russische Präsident Boris Jelzin Ende Dezember einen ihm direkt unterstellten „außenpolitischen Rat“ geschaffen. Seine Begründung: Er könne so seinen präsidialen Willen direkter umsetzen und die Außenpolitik effektiver gestalten. Diese Begründung baut auf drei politischen Mythen auf. Erstens: Eine starke Persönlichkeit an der Spitze könne gegen starke Widerstände die Vernunft durchsetzen. Zweitens: Eine Persönlickeit an der Spitze sei um so stärker, je mehr diktatorische Kompetenzen sie auf sich konzentriere. Drittens: Jelzin sei ein fähiger Politiker. Richtig daran ist, daß er einen unbändigen Machtwillen hat, und daß er bisher fähig war, jeden Widerstand niederzuwalzen.

Auf seine Weise war der russische Außenminister Andrej Kosyrew, der gestern zurücktrat, kein schlechter Amtsinhaber. Sein Ministerium war eine der wenigen russischen Einrichtungen gewesen, die überhaupt noch effektiv arbeiteten. Der außenpolitische Rat öffnet der Jelzinschen Hofkamarilla bessere Zugriffsmöglichkeiten und wird nun auch die Außenpolitik in den herrschenden Sumpf von Korruption und Inkompetenz organisch integrieren.

Seinem öffentlichen Bild nach paßt der 44jährige Kosyrew, der neue Abgeordnete aus Murmansk, da kaum noch hin. Er zeigte sich weder besonders korrupt, noch erschien er halsstarrig oder brutal. Von einem Scheitern kann bei ihm und seiner Politik keine Rede sein. Allerdings würde eine aggressivere Außenpolitik seinem bisherigen Auftreten zu sehr widersprechen, um noch glaubwürdig zu sein. Das politische Theater braucht wie das richtige feste Rollen, damit die Aktion auf der Bühne erkennbar bleibt. Kosyrews Rolle bestand darin, das demokratische, reformorientierte Rußland international zu repräsentieren. Ihm war es gelungen, die Aktivitäten Rußlands in Transnistrien, Mittelasien und im Kaukasus in der außenpolitischen Arena weitgehend auszuklammern.

Kosyrew stand für die Kontinuität der Politik

Er verkörperte nach außen jene Kontinuität, die Rußlands Aktivität in Tschetschenien als Bagatelldelikt erscheinen ließ. Selbst dort, wo die Kooperationsbereitschaft mit dem Westen hätte zweifelhaft erscheinen können, wurde sie vom russischen Außenminister glaubhaft versichert – etwa in Bosnien. Kosyrew war es mithin, der den Verlust der liberalen Substanz im politischen Leben Rußlands außenpolitisch abfing.

Als prowestlicher Liberaler war Kosyrew auch in der russischen Öffentlichkeit wahrgenommen worden, und als solcher war er zum Hauptfeind der antiwestlichen nationalistischen und staatsorientierten Opposition geworden. Diese Opposition hat aber in den letzten Jahren, zuletzt bei den Duma- Wahlen im Dezember, ihre Stärke gezeigt. Lebendig sind die Sehnsüchte nach einem anerkannten Arbeitsleben, nach Zeiten, in denen Urlaubsreisen noch möglich waren, nach einer Welt, in der Opportunismus einfacher und die tägliche Korruption durchschaubarer waren, in der alle Unzulänglichkeiten des Alltags noch durch den Stolz, Bürger einer gefürchteten und geachteten Weltmacht zu sein, kompensiert werden konnten. Es ist Jelzin durch seine innenpolitische Kehrtwendung von 1993 nicht gelungen, diese Nostalgien für sich selbst zu mobilisieren. Mit liberalen Stimmen allein hat niemand eine Chance bei den kommenden Präsidentschaftswahlen, auch Jelzin nicht.

Kosyrew war in dieser Konstellation nützlich. Nach Westen hin konnte er den innenpolitischen Kurswechsel verdecken, der andererseits nationalistische Stimmen anziehen sollte – etwa den Krieg in Tschetschenien. Nach innen hin diente er zunehmend als „Watschenmann“. Für die Nationalisten war Kosyrew längst zum Helfershelfer aller westlichen, zionistischen, muslimischen usw. Verschwörungen gegen Rußland geworden. Jelzins seit Herbst 1995 zunehmend kritische und beleidigende Ausfälle hingen offenbar mit dem Bemühen zusammen, die sowjetisch-nostalgische Volksstimmung in Zustimmung zu verwandeln. Kaum ein anderer hätte Kosyrews besondere Rolle übernehmen können, zu der ja auch die Bereitschaft gehörte, sich öffentlich demütigen zu lassen.

Ohne Kosyrew gerät Jelzins Außenpolitik in eine Schieflage. Im Inneren würde der neutralisierende Watschenmann fehlen, nach außen das liberale Türschild. Der Trick aller Diktatoren, Erfolge sich selbst und Fehlschläge den Dienstboten zuzuschreiben, würde weniger gut funktionieren. Für Kosyrew hingegen wird der Verzicht auf den Ministerposten keine Machteinbuße bedeuten. Als gewählter Abgeordneter könnte er zum ersten Male ein wenig an der politischen Macht partizipieren. Erhard Stölting