Rrrussische Seele peppt Roßmarkt auf

In Sibirien tourten sie mit deutscher Folklore, in Württemberg machen Mitglieder der Deutschen Bühne Temirtau jetzt russisches Theater. Heute tritt das Ensemble in Stuttgart auf  ■ Von Basil Wegener

Ein Stakkato von Konsonanten rattert durch das fränkische Wohnzimmer. Stumm hockt ein knappes Dutzend Schauspieler da, ehrfürchtig der russischen Rede lauschend. Offenbar handelt es sich um spezielle Instruktionen, wie man mit einem Karton Schokobonbons zu Tode gelangen könne. Zwei der Schauspieler sinken jedenfalls mit der Schachtel zu Boden und improvisieren eine kleine Szene, die mit einem Tod durch Verschlucken endet.

Das in der württembergischen Provinz gestrandete „Theater der russischen Schauspielschule“ studiert mit der Moskauer Regisseurin Ludmila Nowikowa ein Stück des Sowjetautors Wassili Schukschin ein. Das heißt, im Augenblick werden die Proben erst vorbereitet, wie einer der Akteure auf deutsch erklärt. Zur Lockerung werden realistische Motivationen für große Empfindungen eingeübt, wie sich das fürs russische Theater auch gehört, findet es nun in Rußland oder auf einer deutschen Wohnzimmerbühne statt.

Im Moskauer Maly Theater, an dessen Stschepkin-Schule Lydmila Nowikowa lehrt, biegen sich die Bretter neuerdings unter Historienschinken. „Zu den Wurzeln der Geschichte“ nennt das die Theaterlehrerin. Die einst verfolgten Sowjetautoren der neuen Welle, junge Dramatiker gar, auf dem Rückwärtstrip? Ja, ja, sagt Frau Nowikowa, das sei alles sehr interessant, doch eben reichlich konservativ. Deswegen sei sie ja nun auch für einen Monat in Deutschland, um mit Wassili Schukschin einen hierzulande wenig bekannten Realisten aufzuführen, der sich oft haarscharf an der Zensur vorbeigemogelt hat. Nachhilfe in russischer Kultur, und zwar mit einem Ensemble, das sich seiner eigenen Kultur noch nie so ganz sicher war.

Die Schauspieler sind Deutsche aus Kasachstan oder Sibirien, die in der Stschepkin-Schule gemeinsam mit den nationalen Theaterklassen der Jakuten, Tataren, Kasachen und Kirgisen ausgebildet wurden. Trotzdem es weder deutsche Schulen gab, noch deutsche Namen unbehelligt getragen werden durften, hielt mindestens die Hälfte der etwa zwei Millionen Deutschstämmigen in den kasachischen oder sibirischen Siedlungen am Schwäbischen, Platt- oder Wolgadeutschen sowie an der deutschen Weihnacht fest.

Obwohl dies zeitweise als Ausdruck politischer Nonkonformität galt, kam es 1981 in Temirtau/Kasachstan zur Gründung eines Deutschen Theaters. 110 Angestellte, darunter 35 Schauspieler, die regelmäßig durch die Siedlungen touren konnten. Neben SALT 1 und der KSZE-Akte war wohl auch das eine Folge der west- östlichen Entspannung seit Beginn der Siebziger. Gleichzeitig mag es der Versuch gewesen sein, einige nationalbewegte und zunehmend regimekritische Deutsche in die sozialistischen Reihen zurückzuholen.

Doch daraus wurde nichts. Sobald sie durften (also vermehrt ab 1989), wanderten die Deutschen in Kasachstan und Sibirien, mithin das Publikum des Deutschen Theaters, in westliche Richtung ab – den nur undeutlich bis nach Zentralasien scheinenden Glitzerfarben und der angeblichen Geborgenheit der Bundesrepublik entgegen.

Das Theater hätte zuletzt große Schwierigkeiten gehabt, im auseinanderfallenden Sowjetreich Zuschauer zu finden, berichtet der Schauspieler Peter Warkentin. Jetzt macht er im nordwürttembergischen Niederstetten Theater – gemeinsam mit Maria Albert, David Winkenstern, Eduard Ziske und sechs anderen ehemaligen Mitgliedern der deutschsprachigen Bühne in Temirtau. Sie alle sind dem 4.500-Einwohner- Städtchen Niederstetten als ganz normale Aussiedler zugewiesen worden.

Natürlich hatten sich die Schauspieler Deutschland ganz anders vorgestellt. Sie rechneten damit, die Aussiedler als ihr altes Publikum wiederzugewinnen. Immerhin haben schon in ihrer nächsten Nähe, in den neu gebauten Trabantenstädten der umliegenden Orte Tauberbischofsheim, Künzelsau und Schwäbisch Hall, mehrere tausend der ingesamt gut eine Million zählenden Aussiedler Unterschlupf gefunden. Doch diese Rechnung geht nicht auf.

In der Bundesrepublik interessiert man sich jenseits konservativer Rhetorik wenig für die Deutschen aus Kasachstan oder Sibirien, und so bleiben sie in ihren Siedlungen unfreiwillig nun abermals unter sich. Auch mußten sie feststellen, daß ihre mit russischen Fragmenten durchsetzten Dialekte mehr als nur einige Morpheme von den hiesigen Idiomen entfernt liegen. Und ohne Kontakt zu den einheimischen Deutschen und ohne festen Job interessieren sich die Aussiedler auch entsprechend wenig für Theater – zumal für eines, das sie an die Hoffnungen ihrer Vergangenheit erinnert. „Für die Landsleute gibt es uns nicht mehr“, sagt der Schauspieler Eduard Ziske.

Kein Wunder, daß sich die Schauspieler vom Deutschen Theater in Kasachstan nun lieber als Russen ein Plätzchen im deutschen Theaterleben suchen. Im Niederstettener Rathaus sieht man's nicht ungern. Sowohl das kulturelle Profil der Region als auch die Public Relations des Ortes könnten, so das Kalkül, von einer russischen Bühne profitieren. Denn das größte Ereignis im Jahreslauf der Stadt ist bisher ein fränkischer Roßmarkt.

Probenräume stellte die Stadt deshalb gern zur Verfügung, und auch die Einladung der Regisseurin Lydmila Nowikowa erwies sich angesichts deren Moskauer Einkommensverhältnisse nicht als unfinanzierbar, zumal das Bonner Innenministerium das Aussiedlerensemble mit einer Freundlichkeit von 41.000 Mark bedachte.

Lydmila Nowikowa und die Schauspieler sind sich einig, daß das „Theater der russischen Schauspielschule“ recht eigentlich in direkter Linie von dem russischen Klassiker Konstantin Stanislawski abstammt. Nun weiß man hierzulande durchaus schon soviel von der „russischen Seele“, daß sie auf ewig am Ach und Weh einer undurchsichtigen (und zunehmend unsozialen) Welt leidet. Und auch das „Theater der russischen Schauspielschule“ umgeht keineswegs derlei melancholische Klischierung.

In ihrer Inszenierung von Slawomir Mrozeks „Emigranten“ jammern sich die Schauspieler Ziske und Winkenstern auf einfach gebauter Bühne tiefgängig an, mitunter in Wehmut gänzlich versinkend. Die Promille kommen, klar, von reinem Wodka, und auch eine Theaterversion von Heines „Wintermärchen“ ist nicht frei von händeringender Emotionalität. Doch es gibt auch stillere Momente. Und im Mrozek-Stück verhelfen je ein suizidaler und ein mörderischer Akt zu grotesken Verfremdungseffekten.

In Wassili Schukschins Dorfprosa, die von Regisseurin Lydmila Nowikowa teilweise eigens dramatisiert wurde, tummeln sich zurückgekehrte politische Gefangene, durch Stadtaufenthalte entwurzelte Typen und sonderliche Künstlerfiguren. Spröde Texte, ebenso handlungsarm wie das kleine psychologisierende Stück „Zwei auf einer Bank“ des Sowjetdramatikers Alexander Gelman, das die Aussiedler ebenfalls spielen. Ein Dramaturg vom Süddeutschen Rundfunk hat bereits heftiges Interesse an einer Fernsehaufzeichnung bekundet, wenn die Schauspieler das bislang auch eher ihrem bühnenexotischen harten „R“ verdanken als einer ausgefeilten Dramaturgie.

Auf der kasachischen Bühne wurde früher folkloristisches Urgestein theaterreif geklopft. Auch Peter Warkentin kennt noch Lieder aus dem 18. Jahrhundert, die seine Eltern mit ihm gesungen haben. „Wo mag denn bloß der Christian sein“ oder „Es hat ein Bauer ein schönes Weib“, heißt so etwas. Sämtliche Brauchtumssymbolik goß das Deutsche Theater in ein Stück namens „Volksfest“. Unter den Augen verdutzter KGB-Spitzel wurden die Deutschen damit scharenweise von den Kolchosen in die Kulturhallen gelockt, nachdem Schiller oder Brecht wenig Anklang gefunden hatten.

Daß im „Sprachschatz der Zurechnungsfähigen“ (Martin Walser) hierzulande weder „Volk“ noch „Nation“ besonders häufig anzutreffen sind, ficht den Schauspieler Peter Warkentin indes wenig an. Doch ginge dies unter Umständen durchaus in Ordnung. Denn wenn er heute deutsche Folklore anstimmt, hat Warkentin womöglich gar nicht mehr Deutschland im Sinn, sondern seine sibirische Heimat. Und der eine oder andere fränkische Bauer, der die Lieder auch noch kennt, mag sich wundern, warum „der Russe“ sie in schweres Moll legt.

Aufführungen im Landespavillon in Stuttgart: am 20. Januar „Deutschland ein Wintermärchen“ nach Heinrich Heine, am 21. Januar „Russischer Abend“ mit Einaktern von Wassili Schukschin und Anton Tschechow jeweils um 20 Uhr