680 Kilometer Nordsee

Die Schiffspassage von Hamburg nach Harwich ist nicht der schnellste, aber wohl der bequemste Weg nach England. 20 Stunden Zwiegespräch mit Wind, Wellen, Casino und Video-Café  ■ Von Christine Berger

Den Anfang jeder Reise macht in den meisten Fällen der Finger auf der Landkarte: Welche Autobahn, wann umsteigen, wo übernachten – alles Fragen, die einem im Kopf herumschwirren, bevor man auch nur einen Kilometer zurückgelegt hat. Eine Schiffspassage mit Kabine entlastet einen nicht unbedingt von diesem Gedankenspiel. Kaum hat die behäbige Hamburg-Harwich-Fähre am späten Nachmittag abgelegt, drängen sich die Passagiere um die Wasserkarten mit der darauf eingezeichneten Schiffsroute. 680 Kilometer in über zwanzig Stunden, das ist gemächliches Reisen durch die Deutsche Bucht, vorbei an ost- und westfriesischen Inseln, Leuchtbojen und jeder Menge Tanker und Containerschiffen.

Wer sich in den Abendstunden bei minus fünf Grad an Deck blicken läßt oder einfach aus dem Fenster schaut, vertreibt sich die Zeit mit Vermutungen über die mystischen Uferlichter und Leuchtturmfeuer. Ob das schon Stade ist oder gar Scharhörn, blinkt da der Leuchtturm von Wangerooge? Fragen, die niemand außer der wachhabende Kapitän auf der Brücke beantworten kann, und der ist natürlich nicht für jedermann zu sprechen. So überläßt man nach einiger Gewöhnungszeit blindlings dem Schiffspersonal den Stand der Dinge, genießt das gemächliche Schaukeln und verdrängt alle Geschichten über Fährunglücke der letzten Jahre.

Die Betten in den Schiffskabinen sind schmal, aber erfüllen ihren Zweck. Wer vom Animationsrummel an Bord nichts wissen will, kann sich mit drei guten Büchern bis zur Ankunft am nächsten Tag 12 Uhr in die Koje hauen. Vorausgesetzt, man hat nicht am Standard gespart und muß sich nicht mit drei fremden Mitfahrern eine Art Duschkabine unter Deck teilen. Wer diesen, billigeren, Weg gewählt hat, vertreibt sich die Zeit lieber in der Sesselecke für Nichtraucher, sieht einen Action-Streifen im Bordkino oder verzockt sein gespartes Geld im reichlich teuren Fast-food-Schnellrestaurant. Auf die Art lernt man wenigstens seine Mitreisenden kennen: Schüler auf Klassenfahrt, Fernfahrer und Pauschalreisende, die die Schnäppchenpreise der Reederei testen. Viele Engländer sind nicht dabei, und somit hält sich auch die Sauferei in Grenzen.

Alkohol ist im Land der Briten viel teurer als im Duty-free-Shop. Dort gibt es außer Spirituosen Parfums und englische Garderobe von zweifelhaftem Geschmack. Wasser, Säfte oder andere nonalkoholics sucht man vergeblich. Auch ein Grund, weshalb man vor der Fahrt unbedingt Proviant einkaufen sollte. Erstens ist die Luft aus der Klimanlage traditionell trocken, und zweitens reißt jeder an Bord gekaufte Schluck Mineralwasser Löcher ins Urlaubsbudget.

Für alle, die nicht schlafen wollen, bietet das Schiff am Abend auch ein bißchen Unterhaltung. In der Mayfair Lounge spielt eine Kapelle aus Bukarest zum Tanz auf, während das Schnellrestaurant ab 23 Uhr durch eine gewitzte Glasverkleidung in eine Disko verwandelt wird und plötzlich Video-Cafe heißt. Hier wie dort herrscht mäßig Andrang. Die paar Endsechziger, die sich in der Lounge öffentlich zu ihrer Vorliebe für James Last bekennen, füllen das Parkett nicht unbedingt. Regelrecht umlagert ist dagegen der Roulettetisch in der Ecke, wo der Croupier aus Dänemark die Hundertmarkscheine gleich im Dutzend einsammelt. Fragt sich, wie sich das Spiel wohl bei Windstärke 12 gestaltet.

Abenteurer kommen bei dieser Reise nicht auf ihre Kosten. Kein bißchen Sturm, kein Motorschaden, nicht mal die Crew streikt. Dabei hätten sie allen Grund dazu. Löhne um die vierhundert Dollar im Monat verdienen die Filipinos, die den größten Teil der Arbeit an Bord erledigen. Außer ihnen arbeiten noch Menschen aus elf weiteren Nationen auf dem Schiff. Sie alle verbringen ihren Alltag überwiegend auf dem Wasser, fernab von Straßenlärm und einengenden Häuserschluchten. Für den ersten Offizier Uwe Hufenbach ist das nichts Besonderes mehr. Von der Einsamkeit der Meere kann auf der Schifffahrtsstraße nach Harwich sowieso keine Rede sein. Dicht an dicht queren Frachter, Tanker und Containerschiffe den Weg der Fähre. Da gilt es als wachhabender Offizier auf der Brücke, Obacht zu geben. Dennoch hat Hufenbach die Ruhe weg. Satellitennavigation, Radar und allerlei technischer Schnickschnack senken das Risiko eines Schiffsunglücks auf ein Minimum. Wichtigstes Gerät, besonders in der Nacht, ist die Kaffeemaschine, sie ist fast ständig in Betrieb.

Manchmal haben die Schiffsführer auf der Brücke auch Besuch von Seglern. Sie lernen hier Navigation und Wetterkunde. Ein weltweit einzigartiges Angebot sei das und deshalb sehr gefragt, erklärt Kapitän Günther Kullack. Für die Reederei, die auf dieser Linie nicht unbedingt riesige Gewinne einfährt, ist der Seminarbetrieb ein kleines Zusatzgeschäft. Voll besetzt ist die Fähre zumindest im Winter nicht. Ein Glück für alle, die in ihrer Kabine Ruhe wollen. Die Wände sind so dünn, daß ein benachbarter Schnarcher die ganze Fahrt versauen kann. Der riesige Schiffsdiesel, der pro Fahrt 60 Tonnen Schweröl frißt, ist dagegen kaum zu hören. Fast lautlos schnurrt das Schiff durch die sanfte Dünung.

Am frühen Morgen schickt ein malerischer Sonnenaufgang sein Licht durchs Bullauge. In die schlafwarme Decke eingemummelt, läßt es sich prima fernsehen, im wahrsten Sinne des Wortes. Das Spiel der Sonne auf dem schaumgekrönten Wellen entspannt ungemein. Irgendwo, weit hinter dem Horizont, liegt der Rest der Welt, und wenigstens jetzt kann er einem für eine Weile gestohlen bleiben. Keine Hektik, niemand, der einen anrufen könnte. Stundenlang läßt sich so verharren, bis der Steward kommt, um die Bettwäsche abzuziehen.

Später beim Frühstück mit farblosen ham and eggs kommt Englands Küste in Sicht. Die Einfahrt in den Hafen von Harwich ist beeindruckend, besonders der riesige Containerhafen von Fellowstowe mit seinen immensen Lastendampfern. Draußen ist es mild und sonnig wie an einem Frühlingstag. Erstaunlich, wie viele Menschen im Winter ihre Sonnenbrillen parat haben. Als das Schiff anlegt, könnte man meinen, eine Delegation der Mafia stehe an der Reling: hochgeschlagene Kragen und dunkle Sonnengläser allerorten.

Und schließlich der erste Schritt an Land. Nach über zwanzig Stunden leichten Schwankens stößt einem die Härte des Betons unter den Füßen unangenehm auf. Nächstes Ziel ist London, bedeutet Linksfahren, Großstadt, Dreck und Gestank. Ein letzter Blick zum Schiff. Wie gut, daß es noch die Rückreise gibt.

MS Hamburg, Scandinavian Seaways, freitags, montags und mittwochs 16 Uhr 30 ab Hamburg, Ankunft 12 Uhr am folgenden Tag