Etwa: Geschwisterkollektiv

„Mit sozialistischen und anderen Grüßen...“ Im Aufbau-Verlag ist ein Dokumentenband mit Alltagstexten aus der DDR erschienen  ■ Von Peter Walther

Wer heute einen Blick auf die Großbaustelle am Leipziger und Potsdamer Platz wirft, wird sich nur schwer vorstellen können, welcher Geist den Ort vor zwanzig Jahren prägte: „Zündende Lieder, schmetternde Fanfaren und Hochrufe sind am Nachmittag des 22. September 1976 in der Leipziger Straße unserer Hauptstadt zu hören“, heißt es in der DDR-offiziellen „Geschichte der FDJ“ von 1983.

Wie sich das ganze Geschmetter und Gedröhne der sozialistischen Propaganda im sprachlichen Alltag der DDR niedergeschlagen hat, läßt sich in einer Publikation der Berliner Sprachwissenschaftlerin Ruth Reiher nachlesen. Über 300 solcher „Alltagstexte“ aus der DDR – von der Geburtsurkunde über Werbebroschüren bis hin zum Brigadetagebuch – hat die Herausgeberin zum sprachlichen „Porträt einer untergegangenen Republik“ zusammengestellt.

Westliche Wissenschaftler beschäftigen sich bereits jahrzehntelang mit der Gegenwartssprache der DDR. Was jedoch bislang immer fehlte, war eine leicht zugängliche Materialsammlung von inoffiziellen Texten, um Fragen beantworten zu können, wie sie Ruth Reiher in ihrem Vorwort stellt: „Inwieweit haben sich die Menschen in der DDR der offiziellen sprachlichen Norm und damit vorgefertigten Mustern angepaßt, wann sind sie kreativ mit ihrer Sprache umgegangen?“

Um es vorwegzunehmen: Auch der vorliegende Materialband, gestraft mit einer unsäglichen Typographie und dem ach so originellen Titel „Mit sozialistischen und anderen Grüßen“, ist nicht dazu geeignet, diese Lücke zu schließen. Wie soll man auf sprachliche Kreativität im Alltag schließen, wenn fast nur amtliche Schreiben, Gebrauchsanleitungen und Arbeitsverträge präsentiert werden? Wenig Abhilfe schafft der Hinweis, der „sprachliche Austausch zwischen den Institutionen“ sei als „Teil der inoffiziellen Kommunikation“ zu werten.

Das ist, mit Verlaub, der pure Unsinn. „Offiziell“ war in der DDR so gut wie alles, was außerhalb von Familie und Freundeskreis gesagt und geschrieben wurde. Wenn es im Hinblick auf die sprachliche Kreativität im Alltag eine Grenze zu ziehen gilt, dann läge sie, läßt man die Literatur außer acht, zwischen dem offiziellen und dem privaten Sprachgebrauch. Die Mehrzahl der in biographischer Abfolge geordneten Texte eignen sich jedoch nicht, um sprachliche Anpassung und Verweigerung, etwa die ironische Unterwanderung der Propaganda im Alltag, zu demonstrieren. Dafür geben sie Aufschluß über die Armut der ideologisch aufgeladenen Funktionärs- und Bürokratensprache, die sich auf tausend Wegen in den Alltag der DDR-Bürger eingeschlichen hatte. Etwa wenn nach dem Besuch in der Familie eines Kollegen im „Brigadetagebuch“ zu lesen ist: „Bei Kaffee und Kuchen vergingen die Stunden des geselligen Beisammenseins viel zu schnell. Schön auch, daß der Kontakt zur Familie vertieft werden konnte.“ An anderer Stelle wird ein Artikel aus der Kinderzeitschrift Bummi zitiert, worin vom Glück einer jungen Familie die Rede ist, der es gelang, „das Geschwisterkollektiv fester (zu) machen“. Und in den Vorbemerkungen zur Straßenverkehrsordnung wird auf den Sinn des Ganzen hingewiesen: „Für den allmählichen Übergang zum Kommunismus in der DDR ist das Wohl, die Sicherheit und Geborgenheit der Bürger vornehmstes Anliegen.“ Will heißen: Mit Verkehrstoten läßt sich kein Kommunismus aufbauen.

Jetzt wäre es natürlich spannend zu wissen, wer da was aus welchem Anlaß und mit welcher Absicht gesagt oder geschrieben hat und wie es aufgenommen oder ignoriert wurde. Den Versuch einer Kommentierung der Texte hat sich die Herausgeberin jedoch aus einsichtigen Gründen versagt: Dies hätte sich leicht zum Grundriß einer Kultur- und Mentalitätsgeschichte der DDR auswachsen können. Für diejenigen, denen Ruth Reiher vorwirft, daß sie sich „berufen fühlen“, einen Alltag „zu be- oder verurteilen, den sie selbst nicht kennengelernt haben“, und damit sind wohl die „Besserwisser“ aus dem Westen gemeint, dürfte die unkommentierte Dokumentation wenig erhellend sein.

Das Vorwort verspricht, es solle „die Alltagssprache von 17 Millionen in 40 Jahren DDR auf 300 Seiten dargestellt werden, ohne daß der Eindruck einer willkürlichen oder zufälligen Aneinanderreihung entsteht.“ Dennoch stützt sich der Band zum überwiegenden Teil auf Texte aus den 70er und 80er Jahren, während die vorangegangenen Jahrzehnte weniger als dürftig repräsentiert sind.

Einige der abgedruckten Texten lassen erahnen, welchen Gewinn die Materialsammlung gebracht hätte, wäre sie zeitlich und thematisch sinnvoll eingegrenzt und entsprechend kommentiert worden. Ein Beispiel: In der DDR war es seit Ende der 70er Jahre üblich, 15- bis 16jährige Mädchen und Jungen für zwei oder mehr Wochen im Jahr zu internieren, sie in eine mausgraue Uniform zu kleiden und an den Segnungen der sozialistischen Landesverteidigung teilhaben zu lassen. Dazu ist nun ein Brief abgedruckt, den die Mädchen aus einem solchen Zivilverteidigungslager an die Jungen ihrer Klasse geschickt haben: „Am Mittwoch haben wir Bekanntschaft mit der Bevölkerungsschutzmaske geschlossen und auf Zeit das Aufsetzen geübt“, heißt es da.

Aus der zeitlichen Distanz ist das Staunen groß, wie weit die Anpassung an offizielle Sprachmuster selbst im privaten oder halbprivaten Bereich gediehen war. Es wäre jedoch falsch, daraus generell auf ideologische Nähe zum System zu schließen. Vielfach war es einfach Unbeholfenheit oder Gleichgültigkeit im Umgang mit der Sprache, was zum Gebrauch vorgeprägter Sprachmuster geführt hat. Es gab aber auch bewußte Verweigerung, den Versuch, sich mit den Herrschenden in ihrer Sprache nicht gemein zu machen.

Das hatte unterschiedliche Gründe, neben den politischen vor allem ästhetische, in bestimmten Kreisen etwa eine Abneigung gegen die Proletarisierung des öffentlichen Lebens. So gab es zu jeder Zeit in den Städten der DDR ein intellektuelles Milieu, das im Kulturbund oder in anderen Nischen Reste bürgerlicher Lebensformen zelebrierte. Was zu DDR-Zeiten anziehend wirkte, entpuppte sich nach 1989 als Hort deutscher Innerlichkeit – mit allem, was dazugehört: Elitebewußtsein, Kastendenken, Technikfeindlichkeit. In diesem Zusammenhang wäre es spannend zu untersuchen, wie sich zugleich mit den Lebensformen auch bestimmte Sprachmuster unter dem gesellschaftlichen Isolationsdruck konserviert haben.

Alles das kann und will dieser Band nicht leisten. Natürlich läßt er sich auch als eine Sammlung von Stilblüten lesen. Der komischste Satz stammt von der Herausgeberin selbst. Er lautet: „Die offiziellen Texte besaßen besondere stilistische Merkmale, die als gehoben und gespreizt zu charakterisieren sind.“ Man muß sich diesen Satz von Harald Schmidt gesprochen denken, dann wird er noch drolliger. Ansonsten beschränkt sich die Zusammenstellung darauf, eine beliebige Auswahl von Texten zu präsentieren, die beim ehemaligen DDR-Bürger vielleicht so etwas wie ein Vertrautheitsgefühl hervorrufen – „ja, so ist es gewesen“. Ruth Reiher setzt auf das Prinzip Heimat, die anderen können ohnehin nicht mitreden. Daß es auch weiterhin so bleibt, dafür hat sie mit ihrem Buch gesorgt.

Ruth Reiher (Hrsg.): „Mit sozialistischen und anderen Grüßen“, Aufbau-Verlag, Berlin 1995, 303 Seiten, 29,90 DM