Comics auf kahlen Fassaden

Lucky Luke jagt Dalton-Brüder am Canal de Charleroi. Belgien im Comic-Fieber  ■ Von Basil Wegener

Spinnen die, die Belgier? Während die ortsansässige EU in ihren monumentalen Verwaltungspalästen der Runderneuerung und das Atomium seinem 40. Geburtstag entgegenfiebert, haben sie das Jahr des Comics ausgerufen. Dazu haben sie allerlei Informationsbroschüren gedruckt, Autobahnschilder mit bunten Figuren versehen und halb Brüssel mit Comicgraffiti vollgemalt. Das Außenministerium betätigt sich als Herausgeber von Bilderkalendern und Informationsmaterial, und Seine Majestät Albert II. selbst gab dem Mühen seinen königlichen Segen.

Bspspsps. Eine Großgruppe mit ihren Stadtplänen ringender Japaner, die sich durch die Rue du Lombard drückt und mit allen verfügbaren Linsen die Fassaden der Brüsseler Altstadt nach sehenswürdigen Erscheinungen abtastet, scheint von all dem wenig mitbekommen zu haben. Über ihren Köpfen erhebt sich ein luftiges Großgemälde. Doch das eineinhalb Stockwerke messende, in sich verschlungene Paar des Zeichners Frank Pé wird für wenig fototauglich befunden. Die Japaner entfernen sich, zielsicher Grand Place und Brüsseler Mittelalter entgegen. Jenem schenken indessen zwei nachfolgende junge Franzosen nicht die geringste Aufmerksamkeit. Ausgestattet mit dem Faltblatt „Parcours bande dessinée“, fahren sie die bunten Bilder ab, die Comiczeichner für einst kahle Fassaden der Hauptstadt entworfen haben.

Eigentlich wurden die humoresken Zeichentätigkeiten vom Vizebürgermeister lediglich zum Zwecke der Stadtverschönerung angeregt. Und so befinden sich manche der Mauerbilder auch in Gegenden, vor denen die Reiseführer eher warnen. Der gebürtige Flame Morris läßt Lucky Luke die gelbgestreiften Dalton-Brüder in der Nähe des Canal de Charleroi jagen, und der kleine Junge mit Hündchen von Roba, einem belgischen Comiczeichner der ersten Stunde, tummelt sich in einer Seitengasse des sozial heruntergekommenen, aber ziemlich lebhaft und mediterran wirkenden Morollenviertels. Die freundliche Albernheit der possenhaften Figuren wirkt hier vielleicht ein bißchen integrierend.

Nun steht Brüssel nicht gerade in einem übermäßig guten touristischen Ruf, und so reihten auch die Fremdenverkehrsbüros den Wandschmuck aus Marketinggründen in das umfängliche Geburtstagsprogramm ein. Belgische Comicforscher hatten nämlich entdeckt, daß der moderne Comic strip just vor 100 Jahren auf die Welt kam. Was in der Wissenschaft übrigens durchaus umstritten ist, denn nicht unbedingt das segelohrige „Yellow Kid“ aus dem New York Journal von 1896 muß jene Kunst der Verbindung von Text und Bild begründet haben, vielleicht waren das schon Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ (1865) oder die ägyptischen Hieroglyphen (ab 3000 v.Chr.).

Sei's drum. Manches im Programm ist sowieso von eher putzigem Stolz. So legte das Musée Royaux d'Art et d'Histoire „Tim und Struppi“- und „Asterix“-Alben aus, um zu demonstrieren, daß die Zeichner die ausgestellten antiken Büsten und eine Schiwa-Statue für Urwald- und Urweltstories abpinselten (bis 15. September). Doch gibt es auch ernste Comicspäße. Zum Beispiel Ausstellungen: über Zeichentrickfilme (im September im Musée du Cinéma) oder über die Vorfahren der Sprechblasenhefte aus dem 19. Jahrhundert (Oktober, in der Lütticher Bibliothèque Chiroux-Croisiers).

Charles Dierick hat eine eigene Theorie entwickelt, um zu erklären, warum es in seinem kleinen Land eine große Bewandtnis mit den Bläschenbüchern hat. Dierick raucht Pfeife, hat feuilletonkompatibel ergrautes schulterlanges Haar und ist der künstlerische Leiter des Brüsseler Comicmuseums, einem ehemaligen Jugendstil- Kaufhaus in der Rue des Sables mit rund 170.000 Besuchern im Jahr. Er sagt, die Belgier hätten seit Pieter Breughel schon immer nach visuellen Kommunikationsformen gesucht, da sie politisch wie auch sprachlich über Jahrhunderte hinweg fremdbestimmt waren.

Fest steht jedenfalls, daß die Comics heute als kulturelle Klammer in einem Land dienen, das immer wieder kurz vor dem Auseinanderbrechen steht und in dem sich die flämische und die französischsprachige Literatur immer nur getrennt entwickelten. „Viele Leser merken gar nicht, ob sie einen Comic eines Flamen oder eines Wallonen lesen“, sagt Dierick. Auch wenn es freilich kulturelle Grabenkämpfe zwischen den fest gebundenen und teureren französischsprachigen Alben und den schnoddrigeren und bulligeren flämischen Geschichten gebe. 300 frankophone und 120 flämische Zeichner stellen die belgischen Verleger der Bandes dessinées heute in Lohn und Brot, Comics werden an Unis examiniert, und sie bilden zusammen mit kommerziellen Nebenprodukten wie Süßigkeiten einen umsatzstarken Markt. Von den jährlich 30 Millionen verlegten Heften gehen drei Viertel ins Ausland.

In Belgien wurden schon Comics für ein breites und keinesfalls nur jugendliches Publikum produziert, als die konservative deutsche Kulturkritik der Nachkriegszeit angesichts amerikanischer „Schundhefte“ noch nach dem Jugendschutz rief. Hergés „Tintin“ alias „Tim und Struppi“, „Lucky Luke“ von Morris und Peyos „Schlümpfe“ erreichten später auch den deutschen Markt. Daß sich hier schemenhafte Figuren durch doch recht stereotype Abenteuer hangeln, mag Charles Dierick nicht finden: „They are classics!“ In seinem Museum nennt sich ein Raum mit entsprechenden Originalzeichnungen „Le Trésor“, die Schatzkammer.

Während es im Wilhelm-Busch- Museum in Hannover eher um die klassische Bildergeschichte geht, gibt es in der Brüsseler Rue des Sables dagegen auch eine Abteilung mit schrägeren Sachen aus der Jetztzeit: expressive Zeichnungen, auf denen die Figuren ihre Rechteckbildchen verlassen haben (Andreas und Derib), verschachtelte Bilder, aufgebrochene Erzählstränge (Druillet), abgedrehte Witzwelten (Kamagurka, Hardy/ Roul Carvin) und Antikriegscomics (Marc Wasterlain).

Letztlich geht es in den bunten Bilderreihen ums Ringen mit der Realität. Gewonnen haben die Zeichner, die den Leser sanft aus selbiger entschwinden lassen. Das finale Wildschweinbraten, bei dem Friede ist und wir alle, alle voll Liebe nebeneinandersitzen, fehlt nun aber leider. Im belgischen Jubiläumsprogramm. Und auch sonst.

Das Geburtstagsprogramm und weitere Auskünfte sind in deutscher Sprache beim Belgischen Verkehrsamt, Berliner Allee 47, 40212 Düsseldorf, erhältlich.

Tel.: 0211/8648431