Lautlose Existenz

„Man pflegte den auftrumpfenden Ton“: Der zweite Teil von Günter de Bruyns Autobiographie berichtet von 40 Jahren Leben in der DDR  ■ Von Peter Walther

Mit achtzig gedenke ich, Bilanz über mein Leben zu ziehen“, verspricht Günter de Bruyn im ersten Satz seines vor vier Jahren erschienenen autobiographischen Buchs „Zwischenbilanz“, in dem er seine Jugend in Berlin bis in das Jahr 1950 erzählt. Nun liegt, ein ganzes Jahrzehnt früher als angekündigt, die Fortsetzung seines Lebensberichts vor: „Vierzig Jahre“ heißt das Buch. Damit ist zugleich ein persönlicher und ein historischer Rahmen abgesteckt, denn gemeint sind jene 40 Jahre, die de Bruyn – zunächst als Bibliothekar, später als Schriftsteller – in der DDR gelebt hat.

Sein Lebensweg in der DDR war vorgeprägt durch die Erziehung, die er im katholischen Elternhaus erfahren hatte, und durch seine Erlebnisse in der ersten deutschen Diktatur – beides hat ihn immun gemacht gegen die totalitären Ansprüche von Ideologien. Der 17jährige, schon damals ein Außenseiter und ausgeprägter Individualist, wird 1943 in die Uniform gepreßt und erlebt das Kriegsende zwei Jahre später als amerikanischer Kriegsgefangener. Während der ersten Nachkriegsjahre arbeitet er als Neulehrer in einem Dorf im Havelland und beginnt 1949 seine Bibliothekarsausbildung in Berlin. Hier setzt der Lebensbericht der „Vierzig Jahre“ ein.

De Bruyn hat die Lebensspanne der DDR voll auskosten müssen, und in seiner Chronik fehlt keines der Ereignisse, die im Laufe seiner Existenz den DDR-Staat erschüttert haben. Er läßt den 17. Juni Revue passieren, die verfehlte Entstalinisierung von 1956, den Mauerbau, Prager Frühling, Biermann- Ausbürgerung, Gorbatschow und die Maueröffnung. Das Besondere dabei ist jedoch, daß diese Ereignisse nicht etwa als Marksteine einer politischen oder moralischen Bewußtseinsentwicklung erzählt werden. Was de Bruyn über die DDR denkt, war am Tag ihrer Gründung schon klar. „Vierzig Jahre“ ist alles andere als ein Entwicklungsroman, sondern ein Buch über den Versuch, mit einer als richtig erkannten Haltung in einer politisch mißgünstigen Umwelt auszukommen. Jeder Lebensschritt wird darauf abgeklopft, ob er den moralischen Maximen in bezug auf geistige Unabhängigkeit standhält – und löst damit neue Gewissensqualen aus: War es richtig, den Sprung zur freien Schriftstellerei zu wagen und dabei auf die Forderungen der Zensur einzugehen? Kann man den Heinrich- Mann-Preis der Ost-Akademie der Künste guten Gewissens annehmen für einen Roman, den man selbst für mißlungen hält?

Wenn sich de Bruyn diese Fragen in der Rückschau stellt, verschweigt er dabei nicht den Preis, den er für seine Integration in den DDR-Literaturbetrieb in Form von ideologischen Zugeständnissen zahlen mußte. Die Alternative hätte jedoch gelautet, in den Westen zu gehen. Damit war es seit dem 13. August 1961 aber erst einmal vorbei. Anders als viele Intellektuelle, die hofften, auf die Abrieglung nach außen folge die Freiheit nach innen, machte de Bruyn sich damals keine Illusionen über Sinn und Folgen der Absperrung. Die langsam einsetzende Gewöhnung an die Mauer kann er an sich selbst studieren: „Um eingesperrt leben zu können, muß man so zu leben versuchen, als gäbe es die Absperrung nicht“.

Herrlich das Erstaunen, als de Bruyn mitbekommt, daß fast alle Schriftsteller, die Verfechter des freien Wortes, Mitglieder der SED sind. „Man pflegte den auftrumpfenden Ton, in dem man die Errichtung der Mauer als Sieg über den Klassengegner gefeiert hatte.“ In den höheren Regionen des geistigen Lebens der DDR hatte die Abgrenzung gen Westen und die Abwehr kapitalistischer Dekadenz noch einen anderen Aspekt. Hier wußte man sich über westliche Neuerscheinungen genauestens unterrichtet und hortete das Wissen sorgsam als geistiges Privileg.

Einen Teil dieses Spiels nun auch als prominenter und im Westen geachteter Schriftsteller mitzuspielen, hat de Bruyn regelrecht krank gemacht. Später zieht er sich aufs Land zurück, in eine Hütte, die er sich als Wohnsitz ausbaut. Hier erfährt er von der Biermann- Ausbürgerung, reist noch am selben Tag nach Berlin, beteiligt sich mit seiner Unterschrift an der Petition gegen die Ausbürgerung und kümmert sich um deren Weitergabe an die Presse. Nachdem die Stasi sich erfolglos bemüht, ihn als Informanten zu gewinnen, wird de Bruyn selbst bespitzelt. Dabei kommt das ganze technische Repertoire des Ministeriums zum Einsatz: Um Mißtrauen zwischen de Bruyn und einer befreundeten Kirchengruppe zu säen, fertigt die Stasi pornographische Fotomontagen an, auf denen der Schriftsteller und die Pfarrerin in unmißverständlichen Posen zu sehen sind.

Nur wenig läßt de Bruyn über sein Verhältnis zu Schriftstellerkollegen durchblicken. Das, was er mit viel Sympathie über die befreundete Christa Wolf schreibt, bestätigt ihre öffentliche Rolle: „Christa war geradezu ausschweifend im Leiden und Mitleiden. Vor allem die an der DDR Leidenden konnten ihres Zuspruchs und ihrer Hilfe gewiß sein. Und da aus diesem Leiden auch die besten ihrer Bücher entstanden (...), riß der Strom jener, die brieflich oder persönlich Rat bei ihr suchten, nie ab.“

Die kurze Episode einer Arbeitsbekanntschaft zwischen de Bruyn und Wolfgang Harich – beide schrieben an einem Buch über Jean Paul – endete mit der einseitigen Aufkündigung durch Harich. Der einstige „Staatsfeind“, der es 1956 darauf abgesehen hatte, Ulbricht vom Sockel zu stürzen, sah seine Bemühungen um eine ideologische Rehabilitierung Jean Pauls in der DDR durch de Bruyns Buch gefährdet. Nach seiner langjährigen Haftzeit hatte Harich in der DDR kaum noch ein Forum für sein essayistisches Genie bekommen. So brachte er den einen oder anderen Vorschlag zur Lösung der Weltprobleme vor de Bruyn zur Sprache: „Die Nahostkrise z. B. wollte er dadurch lösen, daß die an den Juden schuldig gewordenen Deutschen die nördlichen Teile ihrer beiden Staaten räumten, damit der Staat Israel die ihm feindliche Umgebung verlassen und sich zwischen Greifswald und Emden ansiedeln konnte. Harich hatte den Plan, den auch Stalin hätte erdenken können, in einer westdeutschen Zeitschrift der Öffentlichkeit unterbreiten wollen, doch hatte die Redaktion, weil sie ihm wohlwollte, die kühne Friedensidee nicht gedruckt.“

Obwohl der erzählte Zeitraum im zweiten Teil seiner Autobiographie beinahe doppelt so lang wie in „Zwischenbilanz“ ist, kommt de Bruyn mit viel weniger Platz aus. Das mag daran liegen, daß die DDR-Jahre für den Autor ärmer an äußeren Ereignissen waren als die Nazi- und Kriegszeit. Vielleicht schrumpft aber mit dem Alter auch der Bestand an Dingen, die erzählenswert sind. Über Familiäres berichtet de Bruyn nur in Andeutungen. Ausgenommen davon ist die Mutter, deren duldsamer Leitsatz: „Schlimmer kommen können hätte es auch“, die Mentalität einer ganzen Gesellschaft spiegelt. Freunde spielen eine wichtige Rolle in de Bruyns Biographie. Ein Freund aus Kindertagen lebt im Westen und kann nicht verstehen, was den Autor im Osten hält. Das Unverständnis führt schließlich zum Bruch. Von einem anderen Freund, der wegen versuchter Republikflucht eingesperrt worden war, entfremdet sich de Bruyn mit den Jahren. Er spürt den stillen Vorwurf, sich mit seiner Schriftstellerei zu sehr auf die Verhältnisse in der DDR eingelassen zu haben. Die Freundschaft endet mit dem Tod des einstigen Vertrauten, der sich vor eine S-Bahn wirft.

De Bruyn beschreibt die Spielräume für eigenes Agieren in einer vom Staat bis ins Private dirigierten Welt – und zugleich die psychologischen Mechanismen von Anpassung, Gewöhnung und Verdrängung. Er erzählt aus der Perspektive des Außenseiters, aus der Sicht desjenigen, der die Dinge auf ihr menschliches Maß reduziert, wohlwissend, daß das, was in der DDR als „bürgerliches Denken“ denunziert wurde, oft nicht mehr als die Anwendung des gesunden Menschenverstandes war. Gegen das großtönende Lob eigener Leistungen und die Verachtung von Herkunft und Geschichte durch die herrschende Partei setzt er die Beschäftigung mit der Vergangenheit seiner märkischen Heimat. Günter de Bruyns Lebensbericht zeugt von der lautlosen Existenz all jener, die nicht nur Vorbehalte gegen die DDR hatten, sondern immer fremd in ihr geblieben sind.

Günter de Bruyn: „Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht.“ Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1996, 265 S., 39,80 DM