■ Die deutsche Öffentlichkeit und der „Kinderschänder“
: Griffiger Begriff, liberale Stimme

Ein deutscher Fall: Natalie Astner, sieben Jahre, wurde durch einen frühzeitig entlassenen dreifachen Sexualstraftäter vergewaltigt und ermordet. Wie reagiert die Öffentlichkeit, nachdem durch Belgien die Berichterstattung über Sexualdelikte an Kindern extrem angestiegen ist und die Gemüter in höchstem Maß aufnahmebereit sind? 1.) Innerhalb weniger Wochen hat ein alter Begriff nahezu den Status eines Terminus technicus erreicht: Kinderschänder. „Schänden“ entspricht – als Ableitung von „Schande“ – dem überkommenen Moralbegriff der Ehre; konnotiert wird (wie zum Beispiel bei Grabschändungen) etwas Heiliges, naturhaft Unantastbares. Selbst der Klang hat noch etwas Archaisch-Konkretes, das den Begriff „griffig“ macht: geeignet, dem wahrhaft archaischen Schrecken solcher Taten Ausdruck zu geben. Seine wüste, unzivilisierte Simplizität prädestiniert das Wort Kinderschänder zum Transportriemen für Volkshatz, Vorverurteilung und Verdrängung der jeweils eigenen Schuldanteile. Eine Art Nazi-Kampfbegriff ist es dennoch nicht; man muß sogar zugeben, daß es der Tat semantisch angemessen ist.

2.) Politiker reagieren mit einer strafrechtlichen Debatte; die Öffentlichkeit debattiert mit. Neben der vordergründigen Entlastung, die die Hinwendung zu bloßen Einzeltätern bringt, birgt diese Konzentration auf Strafe und Prävention positive Möglichkeiten. Die liberale Stimme des Bartsch-Gutachters Wilfried Rasch prägte gestern selbst die Springer-Presse. So kann die Skepsis gegenüber der kriminalisierenden Wirkung des Strafvollzugs mindestens ebenso laut werden, wie der Ruf nach „mehr Härte“. Notgedrungen werden die herrschenden Mängel sichtbar: Kinder können auch (Todes-)Opfer von Sparmaßnahmen sein. Das frappierendste Beispiel ist die Bild-Zeitung. Sie kommentierte gestern Raschs Ablehnung der chemischen Kastration: „Als Kinderschänder wirst du nicht geboren. Zum Triebtäter wirst du gemacht. Die Schändung eines Kindes ist oft nur ein furchtbarer symbolischer Akt, bei dem es eigentlich um Rache, Macht und Kontrolle eines anderen Menschen geht.“ Dieser klugen Einschätzung ist nichts hinzuzufügen. Dorothea Dieckmann

Die Autorin lebt als Schriftstellerin in Hamburg