Haus als Hüter

Gegen den dogmatischen Funktionalismus: Entwürfe der Architektin Eileen Gray in Frankfurt  ■ Von Klaus Englert

In den Roaring Twenties rief der Schweizer Architekt Sigfried Gidieon zu einer Revolution der Architektur auf: „Wir brauchen heute ein Haus, das sich in seiner ganzen Struktur im Gleichklang mit einem durch Sport, Gymnastik, sinngemäße Lebensweise befreiten Körpergefühl befindet: leicht, lichtdurchlassend, beweglich.“ Auch Le Corbusier bemühte sich bereits 1922 um eine Verbesserung der Wohnverhältnisse in der Massengesellschaft. In großstädtischen Wohnkomplexen aus zweigeschossigen villenartigen Einzelwohnungen mit Terrasse und Sportraum, sollte sich der Mensch an Leib und Seele trimmen können, um dem Maschinenzeitalter besser gewachsen zu sein.

Sicher, Le Corbusier war der Konstrukteur der „machine à habiter“, der funktionalistischen und kalten Wohneinheiten. Aber ihn interessierte auch, was den Menschen geistig und seelisch bewegt. Kaum jemand von den avantgardistischen Architekten vermochte diese Vorstellungen Le Corbusiers überzeugender umzusetzen als die irische Kunsthandwerkerin und Architektin Eileen Gray. Das Architekturmuseum Frankfurt am Main hat dieser bedeutenden und stilprägenden Künstlerin eine Ausstellung gewidmet.

Die 1878 geborene Eileen Gray stand während ihrer künstlerischen Ausbildung in London und Paris noch deutlich unter dem Einfluß des Jugendstils, und später, als sie sich zunehmend mit Lacktechniken auseinandersetzte, wurden Japonismus und Art deco bestimmend. Das benachbarte Museum für Kunsthandwerk zeigt vor allem diese frühen Arbeiten Grays, die sie Anfang der Zwanziger in ihrem Pariser Laden „Jean Désert“ präsentierte. In der Bearbeitung filigraner Gegenstände in der komplizierten japanischen Lacktechnik galt sie als europäische Meisterin.

Doch Le Corbusier überredete sie, das Kunsthandwerk aufzugeben und sich der Architektur zu widmen – ein folgenreicher Schritt für beide. In dieser Zeit war Gray davon überzeugt, daß die „secessionistischen Krawatten“ (Adolf Loos) ausgedient hatten und daß der weitere Weg über die Elementarformen von deStijl und Bauhaus gehe. Aber angesichts der männergeprägten Architektenwelt und der Strenge ihrer Bauwerke ging sie schnell auf Distanz.

Sicher spielten die Einflüsse, die Eileen Gray in der Zeit als praktizierende Kunsthandwerkerin erhalten hatte, eine entscheidende Rolle. Doch nicht nur als Möbeldesignerin, auch als Architektur-Autodidaktin setzte sie Akzente, die deutlich vom Mainstream eines dogmatischen Funktionalismus abwichen. So bekannte sie, mit deutlicher Kritik an Le Corbusier: „Ein Haus ist keine Maschine zum Wohnen. Es ist die Hülle des Menschen, seine Erweiterung, seine Befreiung, seine geistige Ausstrahlung. Nicht nur die visuelle Harmonie, sondern die gesamte Gestaltung, alle Arbeitsbedingungen wirken zusammen, um es im tiefsten Sinne menschlich zu machen.“

Gray baute Häuser als Schutzzonen und Zufluchtsorte für ihre Bewohner. Deutlich wird dies an dem 1926 für den rumänischen Architekten und Kritiker Jean Badovici gebauten Ferienhaus „E1027“ an der französischen Mittelmeerküste – ein Klassiker der Moderne, bei dem Eileen Gray ganz ihrer Maxime „Minimum an Raum. Maximum an Komfort“ folgte. Die Einrichtungsgegenstände wirken verspielt und einfühlsam, ihr geometrisches Äußeres ist umfangen vom Reiz der „élégance“, und immer haben sie einen Bezug zu ihrer Umgebung. Für die Ausstellungsmacher spricht aus diesem gebauten Ensemble eine „Architektur für die Sinne“.

In der Tat ist man sofort von der symbiotischen Ausstrahlung etwa des „Transat“-Stuhles eingenommen. Man weiß sogleich, daß der leicht nach hinten gekrümmte Stuhl auf der von einem Segeltuch begrenzten Terrasse genau an der richtigen Stelle ist. Denn hier gibt er den Blick frei über die „Reling“ aufs offene Meer. Auf den freien Horizont. Le Corbusier muß derart begeistert von dieser Villa gewesen sein, daß er sich in unmittelbarer Nähe eine Hütte baute.

Nutzungsvariabilität, freier Grundriß, ausgewogene Proportionen, Gesamtharmonie in der Gestaltung – dies war das Credo der Universalkünstlerin Eileen Gray. Angeblich ist sie – so die These der Ausstellungsmacherin Caroline Constant – Le Corbusiers Programm für eine neue Architektur gefolgt, das der Meister vorbildhaft mit seiner „Villa Savoye“ 1927 umgesetzt hatte. Doch bereits ein Jahr zuvor zeigte Gray ihr Mißbehagen an der strengen Konstruktionsweise, die Pilotis, Dachgärten und symmetrische Fensterbänder vorsah. Ihr Modellentwurf von 1926 („Haus für einen Ingenieur“), ihr Ferienhaus „Tempe à Pailla“ (1932–1934), die Entwürfe zu einem Kultur- und Sozialzentrum (1946–1947) oder ihr spätes Werk „Lou Perou“ (1954–1958) zeigen eine eigenständige und variationsreiche Handschrift. Die in der Ausstellung präsentierte Maquette „Haus für einen Ingenieur“ vermittelt nicht den Anschein eines starren Kubus, sondern einer dynamischen Plastik.

Aus dem Modellbaukasten der Moderne entnahm Gray bestimmte Bausteine, die sie allein nach ihrem künstlerischen Gefühl zusammenfügte. Doch immer kam dabei ein Gebilde heraus, das eine ähnliche Anerkennung verdiente wie das legendäre „E 1027“: „Ein Ort des Wohlbefindens, der Ruhe und Mannigfaltigkeit, des Maßes und der Proportion, der durch und durch menschlichen Dimension“ (Le Corbusier).

Eileen Gray sollte dem „Pathos des modernen Lebens“ eine angemessene Form geben. Deswegen haßte sie die „seelenlose Architektur“. Dies gestand sie in einem Gespräch mit Jean Badovici. Eileen Gray, die sich in vielen Kunstgattungen zu Hause fühlte und sich an keinem Ort zur Ruhe setzen wollte, renovierte sich in der Nähe von Saint Tropez noch mit mit 80 Jahren eine verlassene Bauernkate und machte daraus ein architektonisches Kleinod. Vor zwanzig Jahren, am 31. Oktober 1976, starb Eileen Gray im Alter von 98 Jahren.

„Eileen Gray. Eine Architektur für alle Sinne“. Museum für Kunsthandwerk und Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt a.M., bis 1. Dezember. Der Katalog (Wasmuth-Verlag) kostet im Museum 48 DM, im Buchhandel 68 DM