Rückkehr der Spitzel-Poeten

IM beerbt Stasi-Opfer: Sascha Anderson gegen Bernd Jentzsch  ■ Von Peter Walther

Vor ziemlich genau zwanzig Jahren erhält Erich Honecker einen Brief aus der Schweiz. Absender ist der Schriftsteller und Lektor Bernd Jentzsch, der im Auftrag eines Ost-Berliner Verlags vor Ort eine Anthologie schweizerischer Dichtung vorbereitete. Jentzsch protestiert in seinem Brief „leidenschaftlich und unwiderruflich“ gegen den Ausschluß Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband der DDR und gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Von der Festnahme bedroht, bleibt Jentzsch vorerst in der Schweiz. Seine Familie in der DDR wird schikaniert, darf aber nach einiger Zeit in den Westen ausreisen.

Heute ist Jentzsch Direktor des Leipziger Literaturinstituts, ein seltener Fall von historischer Gerechtigkeit. Und doch hat sich in den letzten Tagen der Himmel über dem Leipziger Literaturbetrieb verfinstert.

Der Name von Bernd Jentzsch war in der DDR vor allem mit der 1967 von ihm begründeten Lyrik- Heftreihe „Poesiealbum“ verbunden. Die Idee dieser Reihe war ebenso einfach wie bestechend: Poesie als Massenware. Auf 32 Seiten wurde alle paar Wochen ein neuer Lyriker vorgestellt. Hier sind abseitige Barockdichter und Autoren der im Osten beargwöhnten Moderne ebenso wie mißliebige DDR-Lyriker (Brasch, Kunze, Kunert, Inge Müller) gedruckt worden. Für 90 Pfennige konnte man das „Poesiealbum“ an jedem Zeitungskiosk und in jeder Buchhandlung kaufen. Die Reihe wurde bis zum Ende der DDR fortgesetzt.

Anfang Oktober dieses Jahres bekommt Bernd Jentzsch einen Anruf von Sascha Anderson, dem einstigen Protagonisten der Literaturszene am Prenzlauer Berg, der als einer der effektivsten IMs fünfzehn Jahre lang unter wechselnden Decknamen seine Kollegen bespitzelt hat. In dem Telefongespräch kündigt Anderson an, daß er neben Bert Papenfuß als Herausgeber einer Lyrikreihe fungieren werde, die „Poesiealbum“ heißen soll. Jentzsch reagiert umgehend mit einem Brief: „Urheberrechte am Titel besitze ich nicht, aber ich habe das Recht, Sie in aller Form auf die moralischen Aspekte hinzuweisen.“

Bernd Jentzsch wirft Anderson vor, er wolle die Popularität der Reihe ausnutzen, um daraus kommerziell Kapital zu schlagen: „Das verstößt nicht nur gegen die guten Sitten, sondern ist mir vor allem wegen Ihrer IM-Tätigkeit für das MfS der DDR und meiner Stasi- Opferakte ein unerträglicher Gedanke. Ich rate Ihnen dringend, davon abzusehen.“ Anderson beabsichtigt, die Reihe „trotz Ihres als Drohung verstandenen Rates ,Poesiealbum‘ zu nennen“.

Die Geschichte hat noch einen kuriosen Seitenstrang: Zu den zahlreichen literarischen Unternehmungen Andersons am Prenzlauer Berg gehörte 1978–84 die Edition einer kleinen Graphik-Lyrik-Reihe, die den Namen „POE- SIE-ALL-BUM“ trug. Somit glaubt auch Anderson Rechte auf den Namen anmelden zu können. Außerdem behauptet er, Jentzsch um seine Mitarbeit gebeten zu haben. Dies wiederum bestreitet Jentzsch, der erst am gestrigen Donnerstag von den Absichten des „Vereins Poesiealbum“ erfahren haben will. Was in Leipzig passiert, vollzieht sich mehr oder weniger lautlos an vielen Orten der ehemaligen DDR: die Rückkehr der Spitzel ins Literaturgeschäft. In Potsdam wird ein langjähriger IM, Claus Küchenmeister, zum Chef einer Autorenvereinigung gewählt, die sich aus öffentlichen Mitteln finanziert. Auch der Geschäftsführer des Vereins, Walter Flegel, war seit 1964 IM. Die Autorin Gisela Heller geht als Fontane- Expertin auf Lesereise; als „IM Feder“ hatte sie einst das Schlafzimmer von Helga Schütz ausspioniert.

Es ist dieselbe Klientel, die von „Berufsverbot“ und „Inquisition“ tönt, wenn sie nach ihrer Vergangenheit gefragt wird. Mit Vehemenz verteidigen sie heute das „Recht auf die eigene Biographie“, das sie den bespitzelten Kollegen zu DDR-Zeiten verweigert haben.