Der Reiz von Messer und Peitsche

Viele Kunden der Strichjungen an der Piazza Esedra suchen die Gefahr – einige sind in den letzten Jahren umgebracht worden. Einzeltäter, Räuber, eine Bande? Ein Spitzel will es herausfinden  ■ Aus Rom Werner Raith

Noch immer kann Giorgio, genannt „Cazzolone“ (Langschwanz), alles nicht glauben, und beim Blick auf die nachmittägliche Piazza Esedra nahe dem Bahnhof Termini kommt blanke Wut in ihm auf: „Mitten hineingepatzt“, wie er das nennt, steht ein massiver Mannschaftswagen der Polizei, mit rotierenden Blaulichtern drauf und einer Handvoll Uniformierter drum herum. Die schleppen immer mal wieder einen jungen Mann an und verfrachten ihn in den Wagen – manch einer kommt danach wieder heraus und geht weg, andere werden von hergerufenen Polizeiautos weggekarrt. Zumeist sind es Schwarze, aber auch mancher, der durchaus als Italiener durchgehen könnte. „Trotzdem alles Ausländer, die hellhäutigen sind Bosnier, Albaner, der Rest Gemischtes aus Afrika und Asien.“ Noch mehr Wut als über den Polizeiwagen gerät in Giorgios Gesicht, wenn er auf den Anlaß der ganzen Aktion guckt: einen Artikel, der am Wochenende zuvor im Politmagazin Panorama erschienen ist: „Die Jungen von der Piazza Esedra“, lautet der Titel. Der Bericht über eine ansehnliche Serie von Morden an Stricherkunden – anderthalb Dutzend in gut fünf Jahren. Berühmtheiten darunter wie der Kunstkritiker Dante Capelletti oder der als „Institution“ berühmte „Maga Magó“, bürgerlich Norbert Heymann, der jahrzehntelang an der Piazza Navona Karten gelegt hatte; aber auch Unbekannte, eher ärmliche Gestalten, ein Renter von 68 Jahren, ein Friseur, 36, ein paar kleine Angestellte. Und dann noch einer, bei dem man gleich an große Verschwörungen denken möchte: Luciano Petrini, einer der Gutachter im palermischen Prozeß um die Ermordung des Mafia-Jägers Giovanni Falcone. „Daß man was darüber schreiben würde, war mir schon klar“, wütet Giorgio, „und wahrscheinlich war's auch gut gemeint, als Warnung. Aber ausgerechnet jetzt, ausgerechnet, wo wir so dicht dran sind – ein wahrer Rohrkrepierer.“

Giorgio ist so etwas wie ein Informant der Polizei, einige Freunde glauben, er sei sogar selber Polizist. Jedenfalls gibt er an der Piazza Esedra einen „treuen Kunden“ ab, der jeden Nachmittag kommt und sich den einen oder anderen Stricher mitnimmt. „Gottlob sind die hier überaus billig“, grinst er, „keiner über 30.000 Lire“ (derzeit um die 28 Mark) – „sonst könnten die das gar nicht bezahlen.“ „Die“, das sind wohl die ziemlich ratlosen Mitglieder einer Sonderkommission, die herausbekommen will, ob es sich bei den Morden „nur“ um gelegentliche „Ausrutscher“ nach dem Actus handelt, etwa wegen mangelnder Zahlungsmoral der Kunden. Oder ob da „jemand systematisch vorgeht und Schwule aus irgendeinem abgrundtiefen Haß umbringt“, wie es Panorama geschrieben hatte.

Sicher ist, daß nahezu alle Opfer unmittelbar vor ihrem Tod einen Strichjungen mitgenommen hatten, nahezu alle vor allem Farbige bevorzugten und der Großteil wohl auch hier, an der Piazza Esedra vor dem McDonald's-Restaurant oder dem Pornokino „Moderno“, fündig geworden war.

Giorgio hat Erfahrung auf dem Gebiet: Schon vor mehr als einem Jahrzehnt hat er sich als Stricher in die Szene eingeschlichen. Damals ging es darum, ob ausländische Zuhälterbanden für Transvestiten – „die kamen damals gerade groß in Mode, vor allem aus Südamerika“ – nach Rom einsickerten und die Gefahr bestand, daß es zu Bandenkriegen in der Hauptstadt kommen könnte. Tatsächlich hat er, so erzählt er zumindest, „wesentlich mitgeholfen, das Ärgste zu verhüten“ – indem „man einfach die heimischen Loddel stützte“.

Derzeit mimt Giorgio den Kunden, das Haar ein wenig angegraut, der Scheitel ein wenig ausgedünnt, er könnte als 50jähriger durchgehen, obwohl er erst 35 ist. Ein paar Jungen hat er „in mühseliger Anpirscharbeit“ schon ausgemacht, die vielleicht als Totschläger in Frage kommen, „wenn es sich denn um eine Killerbande handelt und nicht um einen Einzeltäter“.

Der für Homosexuelle zuständige Berater des römischen Oberbürgermeisters Francesco Rutelli vermutet hinter den Morden „einen oder mehrere psychisch schwer gestörte Täter“, die „an sich heterosexuell sind und sich übers Strichen ihr Geld verdienen, vielleicht für Drogen, sich dann selbst hassen und aus diesem Haß heraus ihre Kunden umbringen“. Beweise dafür hat er nicht; die Polizei, der Giorgio zuarbeitet, geht „dieser These zwar nach“, so ein Beamter vom Mannschaftswagen, „aber es ist nicht die heißeste der derzeit verfolgten Spuren“. „Klar, klar“, wütet Cazzolone da wieder, „Spurensuche! Ihr sucht keine Spuren, ihr zertrampelt sie, mit diesem dämlichen Aufzug hier zum Beispiel.“ Der Einsatzleiter lacht: „Geh und fick dir heute mal woanders einen!“ – unklar, ob er von Cazzolones Zuarbeitertätigkeit für die Kripo weiß. Der Druck Giorgios an meinem Arm bedeutet mir wohl, daß ich keine Andeutung darüber machen soll. „Hey“, ruft ihm der Polizist nach, „und paß auf dich auf, wir wollen dich ja nicht verlieren, du bist doch so schön!“ Weiß er doch?

Eigentlich hatte Giorgio gehofft, den „Fall“ bis zum 2. November zu lösen – „dem Tag, an dem vor 21 Jahren Pier Paolo Pasolini umgebracht wurde, von einem Stricher“. Und „daß wir solche Fälle aufklären und weitere verhindern, das sind wir Pasolini doch schuldig, oder?“ Aber aus der Aufklärung bis zum Novemberanfang ist nun nichts geworden, „und diese unselige Polizeipräsenz hat uns alles verhagelt“. Die Kunden sind wesentlich weniger geworden hier an der Piazza Esedra, die Stricher verstecken sich im Schatten der Kolonnaden.

Erkenntnisse über die Stricherkunden hat Giorgio allerdings inzwischen reichlich gesammelt: „Was mir die Jungen hier alles erzählen, ist schon unglaublich. Da gibt es Kunden zuhauf, die geradezu die Gefahr suchen, als ob sie sich auch so ein Ende wie Pasolini wünschten.“ Zum Beweis zeigt er auf eine kleine Gruppe Männer am Eck von McDonald's: Drei ältere Herren, distinguierte Typen mit weichen Mänteln und Hüten, verhandeln gerade mit zwei vielleicht 18jährigen dunkelbraunen Jungen – von denen einer eine Fahrradkette schwingt, der andere zwischen den Nietenbesätzen seiner Lederkluft deutlich mindestens zwei Messer stecken hat. Als einer der Polizisten vom Mannschaftswagen daherschlendert, zieht er die Messer schnell und steckt sie dem älteren der drei Männer zu, dann setzt er sich an einen der Tische unter den Kolonnaden und zieht eine Cola-Dose aus der Tasche. Der Polizist beäugt ihn, wirft dann einen Blick auf den Zerberus, der bei McDonald's an sich aufpassen soll, daß sich hier nur Kunden hinsetzen und keine Nassauer; der Mann hebt die Schultern, macht eine beruhigende Geste, der Polizist geht weiter, und wenige Sekunden danach hat der Junge dem Alten die Messer wieder abgenommen. Giorgio hebt ebenfalls die Schultern: „Die drei fahren jetzt mit denen weg, dort oben hinter dem Pincio in die Valle Giulia, da lassen sie sich an einen Baum fesseln oder eine Kapuze über den Kopf ziehen, dann lassen sie sich schlagen, bis Blut spritzt, danach bringen sie die zwei Stricher wieder hierher – wenn inzwischen nichts Schlimmes passiert.“ Tatsächlich nennt ein Handbuch für Homosexuelle mit dem Titel „Mappa gay e lesbica“ diese Gegend ebenso wie die Piazza Esedra und den Bahnhofsvorplatz „besonders gefährlich“. Aber „das stört hier keinen“, sagt Giorgio. Irgendwie hegt er manchmal sogar das Gefühl, daß es „in der Szene hier regelrecht Tips gibt oder jedenfalls Tips gesucht werden, welche Stricher besonders gefährlich sind“. Eine Todessehnsucht vor allem reifender Männer, die mit ihrer Sexualität nicht zurechtkommen? „Vielleicht wird aus der These von Rutellis Berater Piccoli umgekehrt ein Schuh“, meint Giorgio nachdenklich, „vielleicht sind es nicht die Stricher, die sich selbst hassen, sondern die Kunden, und vielleicht reizen die den einen oder anderen bewußt so, daß diese sie umbringen – eine Art goldener Schuß für Schwule, wer weiß?“

Die Stricher ihrerseits haben es, nach einigen Morden in ihren Kreisen Anfang der 80er Jahre, „nicht schlecht gelernt, sich zu verständigen – auch über alle Sprachgrenzen hinweg“. Haben sie einen Kunden an der Hand, deuten sie beim Weggehen fast immer einem ihrer Kollegen durch Handbewegungen an, wohin sie gehen und für wie lange voraussichtlich, so daß man nach einer oder zwei Stunden schon mal einen Suchtrupp aussenden kann. In zwei Fällen hat Giorgio selbst einen schwer malträtierten Jungen gerettet, einmal vor einem mit Peitschenhieben eindreschenden Freier, das andere Mal vor einem wild gewordenen Expolizisten, der dem Stricher mit einer Pistole ein ums andere Mal zwischen die Beine geschossen hat, „immer höher, immer höher...“. Giorgio hat bei der Erinnerung daran selbst noch Übelkeitsgefühle, trotz der zehn Jahre Abstand.

Das Blaulicht der Polizei ist mittlerweile noch auffälliger geworden, die Nacht ist hereingebrochen, der Mond über Santa Maria degli Angeli sieht aus wie auf eine Kulisse gemalt, der Unterschied der Hautfarben im Schatten der Palazzi ist kaum mehr auszumachen. Jetzt sind wieder mehr Stricher da – sie setzen darauf, daß kein Ordnungshüter ihnen in die Dunkelheit nachsetzen wird. Hinter den Kiosken an der Via Diocleziano, in denen bis neun Uhr abends alte Drucke neben zerfletterten Atlanten, liturgische Notenblätter neben frühen Ausgaben des Playboys und Pornozeichnungen verhökert werden, ist der dunkelste Bezirk der Piazza Esedra, und da sind auch die eifrigsten Verhandlungen im Gange. Mindestens 20, 25 kleine Männergruppen sind auszumachen, schemenhaft nur, ab und zu lösen sich Paare daraus, streben einem am Straßenrand geparkten Auto zu.

Giorgio verabschiedet sich, er muß jetzt auch ran, obwohl er sich nun sozusagen „verbrannt“ fühlt. Die Pleite wegen der Veröffentlichung und der Vorsicht, die die Stricher jetzt walten lassen, sucht er nun im Umkehrschluß zu nutzen: „Jetzt such ich mir diejenigen, deren Verhalten sich am stärksten geändert hat, vielleicht sind's die, auf die wir's abgesehen haben.“

Er macht einen kleinen Umweg, geht hinaus aus den Arkaden und hinab zu den Stühlen des Cafés, vor dem das Polizeiauto parkt. Die Mannschaft dort hat offenbar gewechselt, der Leiter ist jedenfalls ein anderer. Giorgio räuspert sich, der neue Leiter hebt ein wenig die Hand. Der nächste, verzweifelte Versuch, die Mörder der Stricherkunden zu finden, beginnt.