Die Politik der Unpolitischen

Das gebrochene Versprechen der Literatur: Frank Schirrmachers gesammelte Essays über das Verhältnis deutscher Dichter zur Politik  ■ Von Stephan Wackwitz

Die sechs Essays, die in diesem schönen Lese-, Zitat- und Fotobuch versammelt sind, lassen den Quantensprung ermessen, den die Tätigkeit Frank Schirrmachers und seiner Mitarbeiter für das deutsche Feuilleton bedeutet hat und bedeutet. „Das Augenmerk gilt den Künstlern in ihrem Verhältnis zur Politik“, so beschreibt Schirrmacher, was ihn an George, Hofmannsthal, Rilke, Trakl und Benn interessiert hat. Daß Intellektuelle gegen Ende der achtziger Jahre begonnen haben, das Feuilleton der FAZ zu lesen, lag daran, daß hier der Kunst und ihrem Verhältnis zur Politik ein Augenmerk gewidmet wurde, daß sich über die Stammhirnreflexe des Linksliberalismus intellektuell erhob. Man kann nun noch einmal nachlesen, was den Strategen dieser Erfolgsgeschichte in seinen Mußestunden beschäftigt hat. „Die Stunde der Welt“ ist ein idiosynkratisches Buch – und damit ein höchst aufschlußreiches.

Die gedankliche Konstruktion läuft auf Gottfried Benn zu, dessen Lieblingsautoren George, Hofmannsthal, Rilke und Trakl gewesen sind; und damit auf einen intellektuellen Verrat. Denn Benn war der Protagonist und zugleich das Opfer „jenes Wortbruchs, der das Versprechen der modernen Literatur widerrief“, nämlich der politischen Verwirklichung der Kunst, die der deutsche Faschismus auch gewesen ist.

Schirrmachers Essays zeigen, in welche Nähe, räumlich und gedanklich, die kunstrevolutionäre Subkultur vor 1933 immer wieder zu der bleichen, linkischen Schwabinger Randfigur geraten ist, die später Reichskanzler wurde. Was Stefan George und seinen Sektenstaat angeht, hat man sich das spätestens seit Stefan Breuers Buch über den Kreis und seinen „ästhetischen Fundamentalismus“ denken und bewußtmachen können. Schirrmacher demonstriert es einleuchtend auch für Rilke, mit dem man sich unter diesem Aspekt bisher noch nicht beschäftigt hat: „Die Energien, die Rilke zur Befestigung des ästhetischen Reiches aufwandte, waren enorm, der Ehrgeiz maßlos, und die alles andere ausschließende Willensleistung, mit der er den cäsarischen Traum der Jugend durchsetzte, muß sich mit derjenigen des fatalen Bruders Hitler vergleichen lassen.“

Vor der Stadthalle von Hannover dann ist der cäsarische Traum der Dichter und Philosophen zu Ende. In einem scharfsichtigen und auch rührenden Porträt sehen wir den geschaßten nationalsozialistischen Kulturpolitiker Benn, der sich in die Provinz geflüchtet hat, möbliert zur Untermiete wohnt, leicht unappetitliche Beziehungen zu verschiedenen jungen Frauen unterhält und nicht weiß, wie es weitergehen soll. Abends nimmt er die Straßenbahn zur Stadthalle (die, wie man im Fototeil sehen kann, ein bißchen der „Großen Halle“ gleicht, die Hitler zur selben Zeit in Berlin bauen lassen wollte) und läßt sich vollaufen.

Daß „Weinhaus Wolf“ so ein großartiger und anrührender Text ist, liegt ja nicht an dem Nietzsche/ Spengler-Schwurbel seines gedanklichen Inhalts, sondern an der Stimmung glaubwürdiger, bösartiger und hellsichtiger Resignation, die sich fortsetzen wird in die fast Gernhardtsche Abgeklärtheit seines Spätwerks („Ich erlebe vor allem Flaschen / Und abends etwas Funk ...“) – es ist diese Stimmung, die Benn zu einem großen Dichter gemacht hat, nicht übrigens, wie Schirrmacher mit einem eben auch vielsagenden Fehlurteil postuliert, der gipserne Klassizismus à la „Einsamer nie“.

Und es ist eine Stimmung, die Benn – ebenso wie seine zu Lebzeiten noch nicht demontierten Vorgänger im Versuch, den Geist zu Politik und Macht zu erheben – Ende der achtziger Jahre wieder lesbar gemacht hat. Schirrmacher schreibt in seinem Vorwort, Bert Brecht hätte eigentlich auch zur „Anthologie der Epoche“ gehören sollen. Der durch ihn und Becher verkörperte Traditionsstrang von der expressionistischen Kunstrevolution zum Totalitarismus erlebte sein Waterloo, seine Hannoveraner Stadthalle, genau zu der Zeit, als Schirrmachers Essays in der FAZ erschienen. Man muß Markus Wolfs „Troika“ neben Schirrmachers Porträts legen – erst dann erhält man das vollständige Bild.

Und versteht darüber hinaus besser, wieso gegen Ende der Achtziger Intellektuelle anfangen konnten, das FAZ-Feuilleton zu lesen. Schirrmacher hat den Größenwahn einer Generation verstanden, die – auf andere Weise als George, Hofmannsthal, Rilke, Trakl und Benn, vor allem ohne deren künstlerische Großleistungen, aber mit diesen Dichtern in einigen Zügen durchaus vergleichbar – intellektuelle Utopien zu Wirklichkeit, Staatlichkeit und Macht verhelfen wollten und sich deshalb mit Brecht, Hermlin, Becher oder Lukács identifiziert haben. Das Engagement der FAZ für Heiner Müller hat dieses Verständnis ebenso bewiesen wie jüngst ihre noble Stellungnahme für Stephan Hermlin.

Die Lektüre der Schirrmacherschen Essays ist nicht zuletzt deshalb so tröstlich, daß man dem Verfasser auch einen hohen Ton verzeiht, in dem dann abschnittsweise ein bißchen arg viel vom „Jahrhundert“, der „Epoche“, der „Welt“ und anderen allzu bedeutenden Dingen die Rede ist. Schirrmacher zeigt, wohin es mit Intellektuellen kommt, wenn sie die gesellschaftliche Ausdifferenzierung ihrer Sphäre nicht wahrhaben wollen und sich mit ihrer Form von Macht nicht bescheiden. Man wünscht sich, wie gesagt, einen Parallelband über die poetische Politik linker Schriftsteller. Kommen kann der jedoch wohl nur von der Linken, von „uns“. Die Intellektuellen haben wohl auch deshalb zum Ende der achtziger Jahre begonnen, das FAZ-Feuilleton zu lesen, weil man dort, im Gegensatz zu anderswo, seine Hausaufgaben gemacht hatte.

Frank Schirrmacher: „Die Stunde der Welt. Fünf Dichter. Ein Jahrhundert“. Nicolai'sche Verlagsbuchhandlung, Berlin, 157 Seiten, zahlr. Fotos, geb., 68 DM