■ Italien verwirrt: Keine Toten zu Silvester
: Verfall der Sitten

Rom (taz) – Der Sprecher des staatlichen Rundfunks RAI tat's mit einem Unterton satten Unglaubens kund – „vielleicht sind die Meldungen noch nicht vollständig“, die Zeitungsredaktionen sind ratlos, und auch die Feuerwehrmänner reiben sich die Augen: Erstmals seit Jahrzehnten, manche Chronisten meinen gar seit Kriegsende, ist der Jahreswechsel im Lande der Zitronenblüte vergangen, ohne daß tags danach die Toten gezählt werden – auf bis zu zwei Dutzend kam man da schon mal, wenn heimgebastelte Kracher in der Hand losgingen, freudige Pistolenschüsse nicht den Luftraum erreichten, sondern Nachbars Oma auf dem Balkon schräg drüber, oder leichtsinnig auf den Grillrost geschütteter Spiritus emporloderte.

Das neue Jahr fängt offenbar an, wie das alte geendet hat – Italien wundert sich über sich selbst. Natürlich hatte man sich auch früher schon gewundert, etwa wenn die Nationalmannschaft von Arrigo Sacchi trotz miserablen Spiels kurz vor Schluß immer noch einen Abstauber ins Tor brachte oder wenn Olivetti-Computer nicht nur unübertrefflich gestylt waren, sondern auch funktionierten. Aber das hatte man unter der Rubrik „Wir sind eben doch schlitzohriger als die anderen“ abgelegt. Derzeit dagegen wundern sich viele Südstaatler über Vorgänge, von denen sie nicht einmal so genau wissen, ob sie diese begrüßen oder eher verdammen sollen.

Eine Regierung, die trotz heftiger Angriffe auch aus den eigenen Reihen munter weitermacht; Bürger, die man immer öfter dabei erwischt, wie sie Steuern korrekt bezahlen; Autofahrer, die glatt bei Rot an der Ampel anhalten, Menschen, die Abfälle tatsächlich in Papierkörbe werfen statt in die Gegend. Selbst die Mafia hält sich mit Morden dezent zurück. Was ist los mit Italien?

Strenge Politikwissenschaftler orten den Grund für den Wandel in der plötzlich übers Volk gekommenen Lust, europäischer als die Deutschen zu sein, schließlich will man ja in den Euro hinein, gleich zu Anfang, und man weiß, daß Bundes-Waigel und noch mehr BUBA-Tietmeyer schon die Stirn runzeln, wenn sie nur eine Lira zu wenig in der Staatskasse oder mangelnde Disziplin beim Durchschnittsitaliener vermuten. Doch das kann wohl nicht die ganze Wahrheit sein.

Bekennende Patrioten im Lande vermuten eher einen Totalverfall der Sitten im Lande. Und sie sehen Schreckliches voraus. Wie will man zum Beispiel noch Touristen mit dem Versprechen nach Sizilien locken, ihnen als Hauptattraktion die neuesten Mordplätze der Mafia zu zeigen (Hauptattraktion 1996), wenn die gar nicht mehr mordet? Wie will man die unabdingbare Lust der Teutonen befriedigen, sich als Übermenschen zu fühlen, wenn die Katzelmacher sich nicht mehr als Chaoten aufführen? Und wie will man Schmiergelder zahlen, wenn man vorher schon alles der Steuer abgeliefert hat? Auch droht weitere Massenarbeitslosigkeit, wenn der Bürger Müll wirklich in die Behälter wirft – Reinigungspersonal in Divisionsstärken wird überflüssig.

Nein, so geht es nicht: Italien muß sich wieder berappeln. Die Spannung konzentriert sich denn auch schon auf Ostern 1997: Da bricht traditionell eine Regierungskrise aus, auch setzen sich am Ostermontag, „Pasquetta“, mehr als fünfzehn Millionen Automobile zum traditionellen Picknick in Bewegung – mit der Perspektive auf viel liegengelassenen Müll und viel Blut auf den Straßen.

Dann wird man sehen, ob das Staunen weitergehen soll oder die Vorurteilswelt wieder in Ordnung kommt. Werner Raith