Theater als Familienfeier

Küchenrealismus im Staatstheater, archaische Rituale im Off – das ungarische Theater schmort im eigenen Saft. Nur einigen freien Gruppen gelingt – eigenartig und schön – der Sprung in die 90er. Ein Festivalbericht aus Budapest  ■ Von Michael Mans

Drei Uhr morgens im Studio K in der Budapester Innenstadt: Die Kneipe des winzigen Kellertheaters ist der Treffpunkt des Alternativtheaterfestivals und völlig überfüllt – wie jede Nacht schon seit mehr als einer Woche. Und wie jede Nacht sind auch Felhö, Dio, Béla und die anderen wieder hier. Drei Vorstellungen haben sie sich an diesem Abend nacheinander angesehen – in der kleinen Budapester Innenstadt kommt man schnell von einem Spielort zum nächsten. Dio schläft fast im Stehen ein. Kein Wunder, tagsüber arbeitet er als Hotelportier, abends geht er ins Theater. Wird er nach dem Festival Zeit zum Schlafen haben? „Vielleicht, ein bißchen“, sagt er – bald fangen wieder die Proben mit seiner eigenen Gruppe an. Abends und nachts. Ruhe ist in dieser Stadt ein Luxus.

Gleich zwei Veranstaltungen boten in diesem April die Möglichkeit, einen Einblick in die gegenwärtige ungarische Theaterszene zu gewinnen: neben dem Festival der freien Theater auch das vom äußerst rührigen Budapester Theaterinstitut ausgerichtete Festival und Symposium der ungarischen Gegenwartsdramatik. Hatte letzteres hauptsächlich zum Ziel, neuere ungarische Stücke einem aus aller Welt angereisten Fachpublikum bekannt zu machen, so ist das Festival der Alternativen eine vornehmlich innerungarische Angelegenheit, eine Leistungsschau des freien Theaters und eine große, alljährliche Familienfeier der Off- und Off-Off-Szene.

Selbstausbeutung als Produktionsprinzip

Mit einem Etat von umgerechnet etwa 7.000 Mark würde in Deutschland niemand auch nur zu planen beginnen. Die Assoziation der Alternativen Theater, ein Zusammenschluß von zehn Theatergruppen bzw. Spielorten, stellte damit jedoch ein Festival auf die Beine, das innerhalb von zwölf Tagen an sechs verschiedenen Spielorten 42 Produktionen präsentierte. Das Maß an Selbstausbeutung übersteigt alles, was wir aus Deutschland kennen. Gagen bekam für die Festivalauftritte niemand, die Gruppen, die aus der Provinz anreisten, mußten noch ihre Fahrtkosten selbst tragen.

Das Szkékné-Theater, das über einen einzigen festangestellten Techniker verfügt, bewältigte acht völlig verschiedene Aufführungen an sechs aufeinanderfolgenden Tagen; an anderen Häusern sah es ähnlich aus. Die Vorstellungen waren sämtlich überfüllt, ob in den winzigen Kellerräumen des StúdióK und des R.S.9. oder im 300 Zuschauer fassenden Merlin-Theater. Drei Mark kostete die Eintrittskarte, die meisten Zuschauer aber hatten ohnehin den Festivalausweis für Mitwirkende in der Tasche. In Budapest schaut man sich noch an, was die Kollegen machen. Mit rund 1,4 Millionen Mark werden die freien Theater Ungarns jährlich gefördert, das sind weniger als zwei Prozent des gesamten staatlichen Theateretats. So liegen die Probenpauschalen für die Schauspieler in der Regel nicht über 400 Mark monatlich; wer kann, arbeitet an zwei Produktionen gleichzeitig oder ergattert zwischendurch eine Rolle im Staatstheater. Naturgemäß drehte sich bei der Abschlußdiskussion des Festivals alles ums Geld, und die Wut war groß, als ein Vertreter des städtischen Kulturamts trocken erklärte, man solle doch endlich die Hoffnung aufgeben, jemals vom Theater leben zu können.

Was gibt es zu sehen in Ungarn? Das staatliche Theater befindet sich noch immer ein bißchen im Zustand der präavantgardistischen Unschuld. Hier dominiert ungebrochener Naturalismus, mal besser, mal schlechter präsentiert.

Schwab und Bernhard werden gern gegeben

Neuere ungarische Dramatik spielt sich vornehmlich in Wohnküchen ab, daher der schöne Begriff „Küchenrealismus“. Ausländische Texte werden wahrgenommen, insofern sie in die ungarische Küchenszenerie passen: Werner Schwabs „Präsidentinnen“ stehen zur Zeit auf dem Spielplan (Katona-József-Theater), Edward Bonds „Gerettet“ (Újszénház), auch Thomas Bernhard wird immer wieder gern gegeben.

Wohnküchen also oder, bei größerer Figurenzahl, ihre erweiterte Form: Hinterhöfe. Hier oder dort trifft sich die Großfamilie, die Nachbarschaft oder ein Kreis guter alter Freunde, Liebschaften entstehen, Ehen gehen in die Brüche, die Alten erzählen von vergangenen Sehnsüchten, die Jüngeren haben meist irgendeine Leiche im Keller, ein oder zwei Alkoholiker in Trainingsanzügen treten auf. Diese unausgesetzte Feier des Privaten, der Leiden und Freuden des einfachen Volkes, wirkt befremdend vorwendemäßig.

Vorsichtig, als müsse man sich noch immer vorm Großen Bruder in acht nehmen, wird das Maß an ästhetischer oder politischer Provokation dosiert: daß am Ende von Lajos Parti Nagys Stück „Mausoleum“ (Regie Gábor Máté) zu den Klängen des Rakóczi-Marsches, der „zweiten Nationalhymne Ungarns“, ein Betrunkener verzweifelt versucht, die Hose wieder über das entblößte Hinterteil zu ziehen, genügt, um Stück und Inszenierung einen Hauch von „mutig“ und „respektlos“ zu verleihen. Der letzte veritable Theaterskandal scheint lange zurückzuliegen.

Er muß sich um 1978 herum abgespielt haben, als ein Haufen junger Regisseure aus der Provinz nach Budapest geholt wurde, um dem Hauptstadttheater neue Impulse zu geben. Seinerzeit lösten sie mit ihrem Bühnenrealismus das alte bürgerliche Deklamationstheater ab. Heute beherrschen sie die Szene. Und obwohl sie und ihre Schüler immer wieder mit wundervollen Schauspielern handwerklich brillant gearbeitete Produktionen wie „Mausoleum“ abliefern, wirkt doch alles ziemlich angestaubt. Die alten Rezepte taugen nicht mehr für die heutige Zeit. Neues ist nicht in Sicht, nicht einmal das Verlangen danach.

„Die Ungarn machen immer das Beste aus dem, was sie haben – und behaupten unausgesetzt, nichts anderes haben zu können.“ So stoßseufzt der junge deutsch- ungarische Filmproduzent Attila Árpa. Er will den ungarischen Film aus seiner Isolation holen und international marktfähig machen – und sieht sich mit Jungregisseuren konfrontiert, die immer wieder die alte 1956er Geschichte von sowjetischen Panzern und ungarischen Bauernmädchen erzählen wollen. Fragt man sie warum, antworten sie mit einem Hinweis auf ihre kulturelle Identität. Die scheint auch im Off-Theater eine große Rolle zu spielen. Politisch enttäuscht und nicht fähig oder nicht bereit, sich dem Phänomen des Kapitalismus künstlerisch zu stellen, flüchtet sich ein Teil der Szene in archaische Rituale und die Beschwörung des wahren Menschentums.

Schlimmstenfalls entstehen so Volks- oder Ausdruckstanzdarbietungen mit mystischem Erlösungsanspruch, rituellen Waschungen und ungeheuer pathetisch deklamierter Poesie, bestenfalls Performances wie „A furulyás“ („Der Pfeifer“) von der Gruppe Aiowa Project, die zwar auch ganz elementar mit Feuer, Wasser und Erde umgeht, sich aber weitgehend des langsam Zelebrierenden enthält und mit einer gewissen Beiläufigkeit Transformationen von Körpern und Stoffen vorführt, den Materialcharakter ritueller Handlungen untersucht, anstatt ihre Bedeutsamkeit zu reklamieren.

Zufallsbezüge zu ausländischem Theater

Ganz Eigenartiges und Schönes entsteht hingegen, wenn die Off- Szene den Realismus der Etablierten weiterentwickelt zu modernen, oft generationenbiographischen Alltagsgeschichten. Das erinnert an ähnliche aktuelle belgische und niederländische Tendenzen – eine seltsame Koinzidenz, denn Einflüsse gibt es von dort sicher nicht. Tamás Jordáns „Megadom, és...“ im Merlin-Theater ist so ein Stück, in dem die Darsteller einer TV- Soap aus dem riesigen Fernseher in die Wohnstube einer unentwegt streitenden Großfamilie steigen, um sie harmonisches Verhalten und friedliche Diskussionskultur zu lehren. Das geht naturgemäß schief und endet in einem perfekt choreographierten Chaos. Imponierend sind nicht nur die Übergänge zwischen Video und Bühnengeschehen, sondern auch das präzis natürliche Spiel der Darsteller. Hier kommt der „Küchenrealismus“ endlich in den 90ern an.

Ähnliches versucht János Regös von der Gruppe „Utolsó Vonal“ mit „Frutta di mare“, einer übermütigen Adaption der französischen Endlosserie „Riviera“. Vor drei Jahren hatte Regös in „Piroska“ seine eigene Familiengeschichte erzählt und die Rollen der übermächtigen Großmutter und der manisch-depressiven Mutter mit Männern besetzt. „Piroska“ avancierte gerade wegen dieser Verfremdung, die in keinem Moment transvestitisch komisch wirkte, zum Kultstück, in dem viele seiner Generation ihre eigene Geschichte wiederfanden.

Dennoch befindet sich die ungarische freie Szene in einer formalen wie inhaltlichen Krise: Vieles wurde in den letzten Jahren ausprobiert, das meiste versandete, ohne Schule machen zu können. Zusätzliche Impulse von außen wären dringend notwendig, aber Gastspiele aus dem Ausland sind in Budapest so rar wie weiße Raben. Matthias Müller-Wieferig, beim Goethe-Institut Budapest für den Kulturaustausch zuständig, ist sich des Problems schmerzlich bewußt – mit seinem Budget von 70.000 Mark im Jahr kann er es jedoch auch nicht lösen.