Das flüchtige Leben am großen Zaun

Rund eine Million MexikanerInnen wurden im vergangenen Jahr von der US-Grenzpolizei beim illegalen Gang über die Grenze aufgegriffen und zurückgeschickt. Die Grenze wird weiter aufgerüstet – die Grenzgänger lassen sich nicht abschrecken.  ■ Aus Tijuana (Mexiko)
und San Diego (USA) Anne Huffschmid

Ein Mann stolpert zwischen den Büschen den Hügel herunter, hinter ihm her ein anderer in grüner Uniform. Ganz oben steht ein zweiter Uniformierter und beobachtet mit Fernglas die Verfolgungsjagd. Auch diesseits des rostigen Wellblechzauns, der die karge Landschaft zerschneidet, stehen Grüppchen von Männern mit verschränkten Armen und schauen dem makabren Fang-mich auf der anderen Seite zu. Schließlich lugt ein Kopf über den Zaun, mit letzter Kraft hievt sich der Flüchtige über den Dreimeterwall. Geschafft. Oder eigentlich gerade nicht geschafft: Zwar hat die Border Patrol, die US-amerikanische Grenzpatrouille, den Eindringling diesmal nicht erwischt – aber statt dessen fürs erste auf mexikanischen Boden zurückgejagt.

Minuten später sitzt Héctor Gómez, immer noch keuchend, auf einem Mäuerchen. Aus dem fernen Chiapas ist der Dreißigjährige angereist, vom anderen Ende Mexikos. Er friert. Ein dünnes Hemd trägt er am Leib, nichts darüber, und auch sonst hat er nichts weiter bei sich. Héctor ist beileibe kein Neuling in Sachen Grenzüberschreitung: Vor fünf Jahren war er das erste Mal über den Zaun geklettert und hatte sich nach Los Angeles durchgeschlagen, wo er seitdem als Mechaniker arbeitet. Von einem Familienbesuch im Süden wollte er jetzt zurückkehren, doch nach einer halben Meile entdeckten ihn die Grenzpolizisten drüben im Gestrüpp. Die Umstehenden, die in der Schlucht „Emiliano Zapata“, am Rand von Tijuana, seit Tagen auf ihre Chance warten, schütteln fachmännisch die Köpfe: Es sei einfach noch zu früh am Abend gewesen. Héctor kommt allmählich wieder zu Atem. Er schaut zu den staubigen Hügeln jenseits des Wellblechs hoch. „Später versuch ich's halt noch mal“, sagt er und blinzelt in die Abenddämmerung.

Der verrostete Blechzaun ist la linea, die magische Schwelle zur tierra prometida, zum gelobten Land, die in Kalifornien den Norden vom Süden trennt. Sechsundsechzig Meilen lang zieht sich die Grenzlinie, die Anfang der 90er Jahre aus recycelten Landepisten des Golfkriegs errichtet wurde, von der Küste Richtung Osten in die sanft gewellte Wüstenlandschaft hinein. Auf der mexikanischen Seite sind die Vororte um Tijuana längst bis an den Zaun herangewuchert. Schon wenige Meter entfernt sind zwischen den Holzbaracken die Wäscheleinen gespannt, kleine Müllberge stapeln sich im Geröll. Hier und da kriechen spielende Kinder in Erdlöchern unter dem Wellblech hin und her. Dahinter strahlen alle paar hundert Meter die Scheinwerfer der Border Patrol als leuchtend weiße Flecken in der Ödnis. Erst in der Ferne blinken die Lichter der ersten Wohnsiedlungen.

Das „kalifornische Berlin“ wird Tijuana mitunter genannt, die 2-Millionen-Stadt am äußersten Nordwestzipfel Mexikos. Kurz nachdem in Berlin die Mauer fiel, so betonen die BewohnerInnen gerade gegenüber deutschen Besuchern immer wieder, sei sie hier gerade erst errichtet worden. Zweigeteilt wurde Kalifornien schon vor fast 150 Jahren, mit dem Ende des Mexikanischen Krieges, bei dem das Land alle Gebiete nördlich des Rio Grande an die USA verlor. Um die Jahrhundertwende war Tijuana noch eine winzige 242-Seelen-Siedlung, ein Zwischenstopp für Durchreisende, die zur gegenüberliegenden Mission von San Diego weiterreisen wollten. Mit der gestrengen Prohibition der zwanziger Jahre wurde der Ort für die benachbarten Gringos bald zur Anything-goes-Metropole, mit einem schier unbegrenzten Angebot an Clubs, Cantinas und Casinos. Filmstars aus dem frühen Hollywood und andere Berühmtheiten wie Al Capone begründeten den glamourösen Ruf der Stadt als mexikanisches Las Vegas. Nachdem Präsident Lazaro Cárdenas Ende der 30er Jahre dem Glücksspiel per Dekret ein abruptes Ende setzte, kamen immer mehr Migranten aus dem Süden durch die Stadt. Während des Männermangels im Zweiten Weltkrieg waren arbeitswillige MexikanerInnen in den USA offiziell noch hochwilkommen. Jahre später wurden die Gastarbeiter dann wieder nach Hause verfrachtet. Doch der Strom von Wanderarbeitern gen Norden riß nicht mehr ab – immer mehr von ihnen wanderten nun als „Illegale“ ein.

Auf der Avenida Revolution, kurz: La Revo, findet jedes Wochenende eine Art umgekehrte Invasion statt: Die Gringos kommen, diesmal in Gestalt von ein paar Millionen zahlungskräftiger Touristen. Ein luftballongeschmückter Club reiht sich an den anderen, dazwischen Souvenirgeschäfte und Liquor-Shops mit überdimensionalen Tequila- und Corona-Flaschen. Die latente Zweisprachigkeit der Stadt ist hier aufgehoben, das Spanische verbannt. Tagsüber zischen Männer in grellbunten Ponchos den Passanten hinterher und bieten irgendwelche Dinge an. Besonderer Clou sind die als Zebras verkleideten Esel, die an jeder Straßenecke bereitstehen und auf denen sich die blonden Ausflügler gerne reitenderweise ablichten lassen.

Einen Block weiter beginnt eine andere Welt: der schmuddige Rotlichtbezirk mit seinen Stundenhotels und China-Restaurants, und die Bars mit dem abgeblätterten Schick, die hier nicht mehr „Zorro“ oder „Torito“, sondern „New York“ oder „Chicago“ heißen. In den Tanzsalon „La Estrella“ verirren sich weder die Blonden aus dem Norden noch die Gutsituierten aus den besseren Bezirken. Im Galopp-Rhythmus der cumbia norteña wiegen sich hier dralle Pärchen auf der Tanzfläche, an den schäbigen Holztischchen werden nur Bier und Rum ausgeschenkt. Für einige der Männer ist es die letzte Station zum Aufwärmen, bevor sie sich wieder auf ihren Weg in die Kälte und „nach drüben“ machen.

Und das ist heute schwieriger denn je geworden. Seit zweieinhalb Jahren wird die Grenze im Rahmen der Operation „Gatekeeper“ systematisch aufgerüstet. An manchen Stellen ist der Zaun nun mit fünf Meter hohen Betonpfeilern verstärkt, durch die man zwar noch schauen, aber eben nicht mehr klettern kann. An anderen Orten sind es gleich zwei oder gar drei Blechzäune, die potentielle Grenzgänger vom Übergang abhalten sollen. Diejenigen, denen es dennoch gelingt, werden drüben von Geländemotorrädern, Flutlichtanlagen und Hubschraubern empfangen. Besonders stolz ist die Border Patrol auf ihre zwischen den Hügeln stationierten Infrarot- Teleskope. „Das ist einer unserer Höhepunkte“, sagt der junge Grenzpolizist Salvador Zamora und erklärt den Besuchern die Funktionsweise einer der High- Tech-Wagen. Auf dem grünen Bildschirm zeichnen sich nachts die Umrisse der durch die Felder hastenden Fremden ab. „Busy areas“ könnten so leichter ausgemacht werden, per Funk werden dann die Kollegen unten informiert. Das scheint vor allem als Abschreckung zu funktionieren, denn heute sei es längst nicht mehr so „busy“ wie noch vor zwei Jahren. Über 1.000 Menschen sind hier früher pro Nacht verhaftet worden, berichtet Salvador, heute sind es gerade noch 50 bis 70.

Was nicht unbedingt heißt, daß die pollos, die Hühnchen, wie die durch die Büsche wetzenden „Illegalen“ zuweilen abfällig genannt werden, heute weniger geworden sind. Viele von ihnen werden von den „Kojoten“, den Führern, die sie gegen ein paar hundert Dollar über die Grenze bringen, heute einige Kilometer weiter östlich über die bergige Wüste nach drüben geleitet. Auf den tagelangen Fußmärschen sind sie mehr denn je Wind und Wetter ausgeliefert, allein in der ersten Januarhälfte sind in der kargen Berglandschaft 17 Menschen erfroren. Das sei zwar ein „tragischer“ Nebeneffekt, räumt Salvador Zamora ein, an sich aber ist die Verdrängung der „Illegalen“ gen Osten gerade der Sinn der Sache. Im Gebiet um Tijuana und San Diego sei die Lage dank Gatekeeper heute jedenfalls „viel kontrollierter“.

Der liebenswürdige Vierundzwanzigjährige ist selber mexikanischer Herkunft, fließend zweisprachig und ganz offenbar in Public Relations geschult. Während er die ausländischen Gäste im luxuriös ausgestatteten Kleinbus durchs Gestrüpp entlang der Grenze kutschiert, erläutert er, warum er als Mexiko-Amerikaner „keine Probleme“ mit seinem Job habe. „Wenn wir unseren Lebensstil erhalten wollen,“ sagt er, „dann müssen wir unsere Grenzen sichern.“ Seine eigenen Eltern seien vor Jahrzehnten schließlich „ganz legal“ in die USA eingewandert.

Was die Übergriffe angeht, von denen Menschenrechtsgruppen auf beiden Seiten immer wieder berichten, so wirbt er um Verständnis: Natürlich müssen die „faulen Äpfel“ unter den Kollegen immer wieder aussortiert werden, aber bei 2.000 Beamten – von denen jeder pro Jahr mehr Verhaftungen vornehme als zehn gewöhnliche Polizisten in ihrem ganzen Leben – werde das zwangsläufig immer wieder passieren. „Schließlich ist das hier ein feindliches Territorium für uns.“

Auch Roberto González und Manuel Zavala fahren in ihren klapprigen Wagen rund um die Uhr die Grenze ab, allerdings auf der gegenüberliegenden Seite. Die beiden gehören zur „Grupo Beta“, einer 45köpfigen Spezialeinheit der mexikanischen Polizei, die sich seit ein paar Jahren als Zivilpolizisten unter die Migranten am Zaun mischen und sich bemühen, potentielle Vergewaltiger und kriminelle Banden zu verscheuchen. Ihr Ziel ist es nicht, jemanden vom Versuch des illegalen Grenzübertritts abzuhalten, der „Beta“ geht es um das Wohlergehen ihrer Landsleute.

Es wird allmählich dunkel, in der Dämmerung kauern Männer am Blechwall, kleine Feuer gegen die anbrechende Kälte werden entfacht. Alle warten. Nicht nur die Nacht, auch die Witterung wird ihnen zuweilen zur Verbündeten. Denn im Nebel können selbst die Teleskope nicht mehr allzuviel ausrichten, und bei Regen, so Manuel grinsend, steigen die Kollegen von der Border Patrol nur ungerne aus ihren beheizten Luxuswagen.

An der Mesa de Otay, kurz hinterm Flughafen, steht eine junge Frau im Graben und starrt sehnsüchtig durch eines der vielen Gucklöcher in dem porösen Zaun. Es ist ihr erster Versuch. Vor ein paar Tagen hat sie sich aus Puebla, einem Bundesstaat nördlich der Hauptstadt, ganz allein auf den Weg gen Norden gemacht. Manuel drückt der schüchternen Zwanzigjährigen fürsorglich ein Zettelchen mit der Telefonnummer der „Beta“ in die Hand. „Für alle Fälle“, sagt er, „paß gut auf dich auf.“ Für einen Moment schaut sie ungläubig zu dem fremden, freundlichen Mann hinauf, dann wendet sie sich wieder ihrem Guckloch zu. Wenige Meter weiter steht ein Mann aus Südmexiko mit seinem Neffen, einem fünfzehnjährigen Mixteco-Indianer. Seit drei Tagen hocken die beiden hier am Zaun und warten auf „den richtigen Moment“. Englisch können beide „kein Wort“, sagt der Ältere fröstelnd. Der Junge kann nicht einmal Spanisch.

Raúl Quintero hat seinen ersten Versuch schon hinter sich – und geht seitdem auf Krücken. Der 39jährige war vor zwei Wochen erwischt worden, als er mit ein paar anderen um Mitternacht versuchte, eine der Schluchten hinter dem Zaun zu überqueren. Im Scheinwerferlicht der Border Patrol seien sie nach allen Seiten losgelaufen, der Wagen habe ihn verfolgt und schließlich angefahren – „mit Absicht“, ist Raúl überzeugt. Schließlich habe der Fahrer, der danach in die Dunkelheit verschwunden war und den Verwundeten einem Kollegen überlassen hatte, ihn die ganze Zeit gut sehen könne. Mit Hilfe des mexikanischen Generalkonsulats in San Diego hat Raúl jetzt den – bis heute nicht identifizierten – Fahrer angezeigt. Er weiß, daß er ohne Zeugen nicht viele Chancen hat. „Aber ich will das durchziehen, solange es eben geht.“ Der american dream ist fürs erste gründlich ausgeträumt: Nach der Knieoperation wird Raúl mindestens drei Monate nicht richtig laufen, geschweige denn arbeiten können. Noch mal versuchen wird er es nicht, statt dessen will er wieder nach Hause, in den Bundesstaat Sinaloa, zu Frau und Kindern. Auch wenn es da, „wenn du nicht gerade im Drogengeschäft arbeitest“, so gut wie keine Arbeit gäbe. Ob er wütend sei? Nein, sagt er, eher traurig. „Wenn einer ehrlich arbeiten will, dann passiert einem sowas.“

Raúl ist einer jener gestrandeten „Illegalen“, die in der Casa del Migrante, einer Hilfsorganisation des italienischen Scalabrini-Ordens, vorübergehend Zuflucht gefunden haben. Auf den Bänken im himmelblau gestrichenen Innenhof sitzen Dutzende von Männern mit sonnenverbrannten Gesichtern und warten auf die Essensausgabe, von den Geländern hängen Wolldecken und Blumentöpfe.

Im benachbarten „Haus für migrierende Frauen und Kinder“ ist gerade Rosa Elia Aguilar abgeliefert worden. Seit sechs Jahren schon überquert die 29jährige aus Michoacan jedes Jahr aufs neue mit ihren zwei kleinen Töchtern die Grenze, um auf den kalifornischen Feldern Erdbeeren, Gemüse und Salat zu ernten. Dabei hoffte sie auch auf die Bewilligung ihres Antrags auf eine legale Aufenthaltserlaubnis. Doch damit dürfte es jetzt erst mal vorbei sein. Als sie beim letzten Mal nicht über die Berge, sondern einfach mit einer Identity Card über den Grenzübergang von San Ysidro gehen wollte, wurde sie zurückgepfiffen. Unter der Anschuldigung, sich als US-Bürgerin ausgegeben zu haben – was nach dem neuen Gesetz einer Straftat gleichkommt –, war sie mehrere Tage festgehalten und schließlich abgeschoben worden. Seitdem hat sie schon viermal vergeblich versucht, über die Berge nach drüben zu kommen. Jetzt wartet sie darauf, daß die Familie ihr die 1.000 Dollar für den „Kojoten“ schickt, der sie nach Los Angeles bringen soll. Und dabei habe Rosa noch Glück gehabt, ergänzt die Heimleiterin Marie Galván. Gerade Frauen müßten die Grenzschmuggler oft „in natura“ bezahlen – wenn sie nicht auf den Märschen durch die Einsamkeit vergewaltigt werden.

Auch für jugendliche Grenzgänger wird die Lage durch das neue Gesetz immer härter. Früher konnte die Abschiebung zumindest dann noch verhindert werden, wenn Familienangehörige in den USA nachgewiesen werden konnten. Heute, so berichtet Oscar Escalada, der das Haus des „Christlichen Vereins Junger Menschen“ (YMCA) für minderjährige Migranten leitet, würden die Kids auf jeden Fall „zurückgeschickt“, um den Preis, daß die Familien damit auseinandergerissen werden. Und dabei würden, zwecks Abschreckung, Eltern und ihre Kinder oft sogar an verschiedenen Übergängen rausgesetzt.

Christo, ein verstörend hübscher Sechzehnjähriger, der immer mal wieder beim YMCA reinschaut, hat, so sagt er, eigentlich gar keine Familie mehr. Und auch keine Heimat. Zu Hause sei er überall und nirgends, „schon als Kind wußte ich, daß ich ein Vagabund bin“, sagt er und es klingt seltsam altklug. Dreißigmal sei er schon drüben gewesen, mal, um „bei Disney-Land vorbeizuschauen“, mal, um die Universal Studios kennenzulernen. Seine großen dunklen Augen flackern unruhig. Wie er sich denn über Wasser gehalten habe? Er druckst herum, hier und da habe es halt immer was zu essen gegeben. Später ergänzt ein Mitarbeiter, daß der drogenabhängige Junge sich sein Leben vor allem als Stricher im Stadtpark von San Diego verdiene, ein beliebtes Freiluftbordell für billige Migrantenkids.

Szenenwechsel: Am Grenzübergang von San Ysidro, mit über 100 Millionen Übergängen pro Jahr der meistbesuchteste Checkpoint der Welt, ist der Übertritt ein denkbar unspektakulärer Vorgang. Außer den legalen Wanderarbeitern gehen hier alle, die es sich leisten können, mindestens einmal pro Woche zum Shopping rüber. Ein paar Meter vor der ausgeblichenen gelben Farbspur, die auf dem Bürgersteig das Ende des mexikanischen Sektors markiert, wird noch das Kunsthandwerk aus Tijuana feilgeboten, aus Gips gefertigte Riesenhamburger, Ninja- und Simpsonfiguren. Gleich dahinter weht ein kleines US-Fähnchen und zwei Polizisten eilen flink herbei, um unkundigen Besuchern höflich, aber bestimmt zu bedeuten, daß man hier erstens keine Fotos zu machen und zweitens zügig voranzuschreiten habe. Im Gang zur Paßkontrolle macht eine zuckersüße Lautsprecherstimme noch einmal unmißverständlich klar, daß Dokumentenfälschung ab jetzt ein Bundesdelikt sei. Die Abfertigung ist flüssig und routiniert. Und schon ist man „drüben“.

Keine fünf Meter vom Ausgang stehen Fahrscheinautomaten und eine rotlackierte Straßenbahn bereit, die die Grenzgänger ins Stadtzentrum von San Diego kutschiert. Kein großartiges Aufeinanderprallen von Nord und Süd, eher kleinstädtische Beschaulichkeit. „Das sieht ja hier aus wie Neu- Isenburg“, staunt ein Kollege.

Auf dem breitem Highway, der an der Westküste Richtung Los Angeles führt, macht sich dann allmählich der Eindruck breit, doch in den USA angekommen zu sein. Keine Spur von Wüste mehr, die Landschaften sind in saftiges Grün getaucht, hier und da leuchten Blumenfelder, die säuberlich in regenbogenfarbenen Streifen angelegt sind. Adrette Reihenhaussiedlungen wechseln sich ab mit Shopping-Centers, Golfclubs und Drive-Ins. Beim Mittagssnack kommt die blonde Kellnerin, die sich ihren deutschsprachigen Kunden sogleich als „Lilly aus Österreich“ zu erkennen gibt, den Neuankömmlingen unverhofft zu Hilfe. Wo man denn hier mexikanische Wanderarbeiter finden könne? „No problem“, lacht sie und zeigt durchs Fenster, einfach da einbiegen und bis zu „El Camino“ fahren, da ständen die dann jeden Morgen abholbereit an der Straße. Auch sie selber lasse sich gelegentlich den Garten richten von einem Mexikaner, fünf Dollar die Stünde müsse man schon hinlegen, aber dann werde auch „ordentlich gearbeitet.“

Für Emiliano Ramirez ist der Arbeitstag für heute zu Ende. Der Sechsundzwanzigjährige wischt sich den Schweiß vom erdverschmierten Gesicht. Auf einem Gemüsefeld habe er gearbeitet, erzählt er, während er am Highway entlang nach Hause läuft. Na ja, lächelt er verlegen, zu Hause sei vielleicht zuviel gesagt. Zusammen mit ein paar Landsleuten hat er sich ein Papphüttchen im Wald gebaut, Wohnungen seien hier „viel zu teuer“. Vor einer guten Woche erst ist er mit drei Cousins über die Grenze gekommen, zwei Tage lang sind sie durch die Berge gelaufen. Jetzt steht er wie alle anderen jeden Morgen in El Camino, „mal gibt's Arbeit, mal nicht“. Ein paar Monate würde er schon noch bleiben, bis er zur Familie in den südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca zurückkehrt. „Aber wer weiß, wie lange die uns hier lassen.“

Wie wichtig die „Illegalen“ heute für die US-Wirtschaft sind, darüber gehen die Meinungen auch unter mexikanischen Fachleuten auseinander. Der Arbeitssoziologe Jorge Bustamente vom renommierten „Colegio de Frontera Norte“ ist davon überzeugt, daß die US-Regierung die illegale Migration im Grunde gar nicht stoppen, sondern ihrer konservativen Wahlklientel mit ihren „antimexikanischen Kampagnen“ nur etwas vorgaukeln wolle. Allein in der kalifornischen Landwirtschaft arbeiten zu 90 Prozent mexikanische Wanderarbeiter, zwei Drittel von ihnen ohne gültige Papiere. „Die Illegalen tragen dazu bei, die Produktionskosten in so strategischen Sektoren wie dem Agrobusineß zu senken.“ Die Verschärfung der Einwanderungsbestimmungen tauge höchstens, um die illegale Arbeitskraft „verwundbarer“ zu machen und damit weiter zu verbilligen. Schon Operationen wie Gatekeeper haben nach den Statistiken des Colegio keinen spürbaren Einfluß auf die Migrationsströme gehabt und sind nach Ansicht von Bustamente ohnehin eher „symbolischer“ Natur. „Das ist wie bei den primitiven Völkern, die früher Amulette auf die Grenzlinien zu legen pflegten, um damit das Eindringen böser Geister zu vereiteln – da glaubte man auch, daß das eine sehr effiziente Methode sei.“

Dagegen vermutet José Luis Pérez Canchola, ehemaliger Menschenrechtsbeauftragter von Tijuana und neben Bustamante einer der renommiertesten Migrationsexperten, daß es beim gegenwärigen „Rechtsruck“ in der US-amerikanischen Einwanderungspolitik durchaus darum gehe, die Grenzen gen Süden „zumindest dichter“ zu machen. Die Kriminalisierung der Migranten sei knallhartes Kalkül: Vor dem Hintergrund des brachliegenden Sozialstaates in den USA solle durch das Aussieben der Illegalen Arbeitsplätze für diejenigen US-Bürgerinnen geschaffen werden, die durch die immer größer werdenden Maschen des sozialen Netzes fallen.

Aber auch die mexikanische Regierung habe bislang keinerlei Vorschläge für eine konzertierte Migrationspolitik vorgelegt, kritisiert Canchola. Sie sei vielmehr an der Aufrechterhaltung des Status quo interessiert – vor allem auch an den drei bis fünf Milliarden Dollar, die die Arbeitsmigranten Jahr für Jahr als „Gratissubvention für die armen Regionen“ nach Mexiko schicken. „Wahrscheinlich zieht es unsere Regierung vor, daß all die Leute auswandern“, sagt der Menschenrechtler, „denn wenn sie dablieben, könnte es in manchen Gegenden wirklich explosiv werden.“

Zurück zum beach, zur playa, da, wo sich der metallene Wall in der Brandung verliert. Vor dem Bau der Metallwand hatten sich die Familien von beiden Seiten hier noch zum Picknick getroffen. Und auch danach haben immer mal wieder welche versucht, in die USA zu schwimmen. Heute aber ragt der Zaun so tief ins Meer, daß derlei Absichten von vorneherein zum Scheitern verurteilt scheinen. Zumal auf der anderen Seite, kaum hundert Meter von der Grenze, schon eine Grenzpatrouille auf dem Strand bereitsteht, um besonders Wagemutige in Empfang zu nehmen.

Aber auch heute stehen kleine Gruppen von Männern auf den Klippen und starren unverwandt über den Zaun. Genau hier wollte der US-amerikanische Performancekünstler Vito Acconi für das binationale Border-art-Projekt „Insite 97“ seinen „Conference Room“ installieren: als schwimmende zweigeteilte Plattform am Ende des Blechzauns, an den sich dann Bill Clinton und sein mexikanischer Amtskollege Ernesto Zedillo zu setzen hätten. Da aber hatte die Border Patrol, Public Relations hin oder her, dann doch ihre „technischen Bedenken“ anzumelden.