Mehr Licht für mehr Autos

Streit im Altstadtdickicht: Barcelona saniert die Viertel rund um die Ramblas, doch die Bevölkerung möchte lieber ihr soziales Umfeld behalten  ■ Aus Barcelona Reiner Wandler

Ungeheuerlich, dreimal so groß wie ein Fußballfeld“, schimpft Joan Ribot und zeigt auf die riesige Freifläche um sich herum. In der Form eines großen U liegt der frisch asphaltierte Platz mitten im Casc Antic, einer der drei Stadtteile der Ciutat Vella, dem mittelalterlichen Zentrum von Barcelona. Er hat keinen Namen. Doch Ribot erinnert sich noch gut an all die Gäßchen, die hier verliefen, bevor die Bagger kamen.

Ribot ist Besitzer eines Naturkostladens gleich um die Ecke, hinter dem Picasso-Museum. Die Proteste des Vereins zur Verteidigung des Alten Barcelona, dessen Sprecher Ribot ist, konnten den Abriß ganzer Häuserblocks nicht verhindern. Die Altstadtsanierung schreitet unaufhaltsam voran, was die Stadtoberen als „nicht mehr zu retten“ einstufen, wird weggerissen. Neue Gebäude, Plätze und Straßen entstehen. Beim Rest sollen die Besitzer mit Zuschüssen zum Renovieren animiert werden.

2.000 Familien wurden bisher umgesiedelt. 500 warten noch auf eine Ersatzwohnung. Die ersten hatten am meisten Glück. Ihnen stellte Procivesa, eine halb öffentliche, halb private Firma, die eigens zur Abwicklung der Sanierung gegründet wurde, modernisierte Altbauten zur Verfügung. Besonders auf der anderen Seite der Ramblas, der Flaniermeile von Barcelona, hat die Stadt auf diese Art unzählige illegale Pensionen und Bordelle einer neuen Bestimmung zugeführt. Für die restlichen Familien baut die katalanische Regionalregierung auf Teilen der entstandenen Freiflächen in der Altstadt und am Rand des Zentrums Sozialwohnungen.

Maribel Deroa hat es von der Jaime Girald Gasse, wo jetzt das U klafft, an den Innenstadtring verschlagen. Mit Ehemann und den beiden volljährigen Kindern bewohnt sie eine 90-Quadratmeter- Neubauwohnung. „Besser oder schlechter als vorher?“ – Maribel Deroa weiß das gar nicht so genau zu sagen. Die alte Wohnung war etwas größer und ganz gut in Schuß für die Gegend. Aber dunkel war es in dem engen Gassengewirr. „Hier haben wir jetzt den Verkehrslärm vom Ring, aber wir müssen tagsüber nicht das Licht einschalten“, sagt Maribel Deroa. Nur die Dorfstimmung in der Altstadt vermißt sie, die einen vergessen ließ, daß man mitten in einer Metropole lebte: „Auf der Treppe und in den kleinen Läden, da hat man sich wenigstens noch gekannt. Hier im Aufzug reicht es gerade mal für ein Hallo, und im Supermarkt weiß ich nur von den wenigsten, wer sie sind.“ Joan Ribot hat anfänglich noch versucht, den Kontakt mit alten Nachbarn zu halten, hat sie regelmäßig in der Neubausiedlung am Ring besucht. Jetzt macht er den Weg nur noch ab und zu, wenn er zu seinen ebenfalls umgesetzten Eltern fährt.

„Die Sanierung zerstört ein über Jahrhunderte gewachsenes Sozialgefüge“, weiß Ribot und zeigt auf die Nischen, in denen jeder Straßenzug den Heiligen der ehemals ansässigen Handwerkszunft beherbergt. Denkmäler, die an eine Zeit erinnern, als die kleinen Gassen hier das wirtschaftliche Zentrum der Stadt waren. Noch immer hängen an jeder Kreuzung die Straßenschilder aus Emaille, die die Fahrtrichtung für die Pferdegespanne angaben. „So manches Gebäude birgt regelrechte Schätze“, sagt Ribot. Alte Freitreppen in Gewölbeform, große Hofeinfahrten für Kutschen, Brunnen im Innenhof. Doch mit der wachsenden Bevölkerung vor allem in den Jahren der Industrialisierung und noch einmal nach dem Bürgerkrieg wurden die einstigen Paläste zu regelrechten Mietskasernen. Wo auch nur ein paar Quadratmeter Platz war, wurde aufgestockt, umgebaut, durchgebrochen. Alles ohne Plan und ohne Genehmigung. Daß dies einer Sanierung bedarf, bestreitet auch der Bürgerverein nicht. Nur über das Wie, darüber sind sie sich mit Barcelonas Städtebauern nicht einig.

Abriß vom Hafen bis zur Kathedrale

Ginge es nach Ribot, dann müßte Gebäude für Gebäude katalogisiert und behutsam wieder in den ursprünglichen Zustand versetzt werden. „Nur wenn es gar nicht anders geht – abreißen“, lautet das Konzept, das der Verein dem großflächigen Einsatz der Bagger entgegenstellt. „Was hier geschieht, beruht letztlich auf einem Plan von 1864“, wirft Joan Ribot der Stadtverwaltung vor. Damals träumte Städteplaner Ildefonso Cedra, Vater des neuen Barcelonas, von vier großen Avenuen außerhalb der Stadtmauern, die das Zentrum durchlässig machen sollten. Gebaut wurde schließlich nur eine: Die Via Laietana ist Barcelonas verkehrsreichste Straße und verbindet seit Anfang des Jahrhunderts Neustadt und Hafen.

An den restlichen Achsen wurde immer wieder etwas weitergebaut, wenn sich die Gelegenheit bot. Der beste Beweis ist die Promenade vor der Kathedrale. Sie sollte einst zur parallel zum Meer verlaufenden Querverbindung zwischen den links und rechts der Ciutat Vella liegenden Neubauviertel werden. Nach Osten hat sie sich schubweise mit wechselndem Baustil bis in die 60er Jahre ein ganzes Stück in die Altstadt gefressen. „Dieses Mal soll der Durchbruch geschafft werden“, beteuert Ribot. Nur noch ein Häuserblock steht zwischen dem großen U im Casc Antic und der Promenade vor der Kathedrale.

„Die öffnen den Stadtteil für den Autoverkehr und das auch noch mit EU-Geldern aus dem Umwelttopf des Kohäsionsfonds.“ Der Verein zur Verteidigung des Alten Barcelona schickt seit Monaten Protestbriefe an die zuständige EU-Kommissarin Monika Wulf-Mathies, die 70 Millionen Mark bereitstellt – 85 Prozent dessen, was gebraucht wird, um die für die Operation nötigen Gebäude und Grundstücke zu enteignen: „Was diese Art von Altstadtsanierung mit Umweltschutz zu tun habe, wollen wir wissen, die Antwort läßt auf sich warten.“

Der Distriktbürgermeister der Ciutat Vella, Joan Fuste, weist die Kritik weit von sich: „Wir schlagen hier keine Schneisen für breite Straßen, wie einst Haussmann in Paris. Die Avenuen von Cedra sind seit 1981 vom Tisch.“ Der neue Plan soll mit einer Auflockerung des Baugewebes Mensch und Sonne den Zugang zur Altstadt erleichtern. „Licht ein Teil der Grundausstattung“ lautete bereits vor Jahren einer der Slogans, mit denen der sozialistischen Bürgermeister Pasqual Maragall Wahlkampf machte.

„Wir wollen keine geraden Flächen und Blocks schaffen“, beschreibt Fuste seine architektonischen Ideen. Dem verschachtelten Charakter der mittelalterlichen Umgebung soll Rechnung getragen werden. Statt einer Straße ein Geflecht von Plätzen und Promenaden. Daß die Öffnung zwangsläufig Verkehr anlockt, kann auch Fuste nicht bestreiten. Er begnügt sich damit, daß es kein Durchgangsverkehr sein wird, sondern nur Anlieger auf der Suche nach einem Platz in den ebenfalls geplanten Parkhäusern. Eine Verschlechterung ist dies allemal – bisher trauten sich Fahrzeuge nur im äußersten Notfall in die engen Gassen.

Der studierte Geschichtswissenschaftler Fuste kann die Begeisterung darüber, Barcelona seinen Stempel aufzudrücken, nicht verleugnen. Für ihn sind Leute wie Ribot ganz einfach „reaktionäre Romantiker“: „Warum soll sich die moderne, zeitgenössische Architektur nicht in die Altstadt einfügen? Dort stehen Gebäude aus fünf Jahrhunderten nebeneinander. Warum soll denn ausgerechnet die Architektur aus dem 20. und 21. Jahrhundert keinen Platz haben?“ fragt der Städteplaner.

Neapolitanische Verhältnisse

Bisher ist an den Neuanlagen von einfallsreicher Architektur nur wenig auszumachen. Billige glatte Bauten, wie in jeder x-beliebigen Vorstadt, wurden schnell hochgezogen, um die vom Abriß bedrohte Bevölkerung umzusetzen. „Was wir hier nicht machen können“, entschuldigt sich Fuste, „ist Altstadtsanierung wie in Bologna oder Dresden. Dafür ist das historische Zentrum von Barcelona viel zu groß.“ In einer Altstadt mit 40.000 Wohnungen, vergleichbar nur mit Neapel oder Rom, könne die öffentliche Hand nicht hingehen und alles restaurieren. Darum heißt Fustes Konzept: „Mit öffentlichen Mitteln die kritische Masse schaffen, die nötig ist, um das Viertel wieder attraktiver zu machen, den Hauseigentümern das Vertrauen in die Zukunft der mittelalterlichen Stadtteile zurückzugeben und sie für den Erhalt ihrer Gebäude zu gewinnen.“

Fuste sieht sich als „linker Städteplaner“ im Gegensatz zu den „rechten“, die einst die Via Laietana entwarfen. Für ihn hat die Altstadt zwei Feinde: Wird sie vernachlässigt, läuft sie Gefahr, zum „innerstädtischen suburbanen Ghetto“ zu verkommen; eine Reform, die dem speziellen Charakter des Multifunktionalität – Wohnraum und Wirtschaftsraum – nicht Rechnung trägt, habe eine schöne, aber tote Altstadt, „ein reines Monument“ zur Folge. „Die Vermischung der Klassen, vom Multimillionär mit dem Spleen, sich ein Bürgerhaus zu kaufen, über Kleinhändler, Freiberufler, Handwerker und Arbeiterfamilien ist die einzige Garantie dafür, daß das historische Stadtzentrum überlebt.“ Im Jahre 2002 will Fuste mit der Sanierung fertig sein. Dann hat Barcelona Vorbildcharakter im gesamten Mittelmeerraum, da ist sich der Bürgermeister der Ciutat Vella sicher.

Erste Anfragen zum städteplanerischen Know-how liegen bereits vor: Algier will seine Kasbah sanieren. Unter dem Schlagwort „Sozialstaatlichkeit auf Gemeindeebene“ fand Ende März ein erster Erfahrungsaustausch während einer Reise von Barcelonas Bürgermeister Maragall in die Hauptstadt Algeriens statt. „Algier hat ähnliche bauliche Probleme wie wir“, beschreibt Joan Fuste die Gründe für das algerische Interesse an der Reform in Ciutat Vella. Daß „Entkernung und Öffnung der Altbausubstanz“ nicht nur dem Licht besseren Zugang zur Kasbah, der Hochburg der radikalen Islamisten, verschafft, sondern auch den Militärs ... Fuste winkt ab: „Wir sind ja nicht Haussmann, wir schlagen keine Schneisen“, wiederholt er einmal mehr sein Motto. „Wir wollen mehr Lebensqualität für die Einwohner der Kasbah. Vielleicht führt das ja dann auch dazu, daß die sozialen Probleme abnehmen und die Menschen nicht mehr so bereitwillig den Extremisten in die Arme laufen.“