Auf den Straßen von Izmir

■ Eine Bremer DRK-Delegation unterstützt die türkische Partnerstadt beim Umgang mit Straßenkindern/Vom Versuch, dort eine Vernetzung der Behörden zu organisieren

Als im April –96 eine Bremer Delegation die neue Partnerstadt Izmir an der türkischen Westküste besuchte, äußerten die türkischen Partner ziemlich direkt, daß sie von der Verbindung mehr erwarten als nur nettes Blabla. „Könnt ihr uns nicht mal einen Arzt vorbeischicken, der unseren Straßenkindern das Schnüffeln abgewöhnt?“wurde unverblümt die mitgereiste DRK-Vorsitzende Roswitha Erlenwein gefragt.

Die nahm die Anfrage ernst. Zwar schickte sie keinen Arzt in die Millionenstadt – dafür aber zwei DRK-Mitarbeiter: die Psychologin Suzan Kamcili und der Sozialpädagoge Detlev Bartsch haben sich vor Ort der Problematik der Straßenkinder angenommen.

Sie beschreiben Izmir als eine Stadt, die mit dem Problem vieler Großstädte in der Türkei zu kämpfen hat: Landflucht. Immer mehr Menschen strömen aus ländlichen Regionen in die Hafenstadt, weil sie auf ein besseres Leben hoffen. Offiziell soll Izmir zwei Millionen Einwohner haben; Bartsch und Kamcili schätzen, daß es mindestens drei Millionen sind. Allein im letzten halben Jahr, so haben sie vor Ort erfahren, seien mehr als 400.000 Menschen nach Izmir gezogen – die meisten von ihnen aus ärmlichen Verhältnissen, ohne Berufsausbildung, ohne Perspektive.

Die Eltern der überwiegend kinderreichen Familien finden nur selten Jobs. Viele schicken ihre Kinder zum Geldverdienen auf die Straße: Schuhe putzen, Windschutzscheiben von Autos polieren oder auch betteln. Die Kinder lernen so, sich durchzuschlagen. Viele seilen sich irgendwann von ihrer Familie ab, behalten das Geld für sich und leben auf der Straße.

Die Zahl der Straßenkinder in Izmir ist dramatisch angewachsen in den letzten Jahren. Politiker und Polizei, so stellten die Bremer DRK-Mitarbeiter fest, neigten allerdings dazu, das Problem zu verharmlosen.

Bei dieser Ignoranz haben Suzan Kamcili und Detlev Bartsch mit ihrer Arbeit angesetzt. Im August letzten Jahres fuhren sie zum ersten Mal nach Izmir und führten mit den verschiedensten Akteuren, die mit Straßenkindern zu tun haben, ein Seminar durch: Polizisten, Sozialarbeiter, Ärzte, ehrenamtliche HelferInnen. Diese hätten bisher immer konsequent gegeneinander gearbeitet, statt Hilfsangebote zu koordinieren und sich gegenseitig zu unterstützen. „Es gibt unglaubliche Eifersüchteleien und Eitelkeiten“stellt die Psychologin Kamcili fest.

Anfang diesen Monats sind die beiden DRK-Mitarbeiter zum zweiten Mal in Izmir gewesen: ein Vertiefungs-Seminar diente der Vernetzung von Hilfsinitiativen. Dort regten sie unter anderem an, sich von dem bisher in der Türkei üblichen Umgang mit Straßenkindern zu verabschieden: „Dort gilt es immer noch als oberstes Ziel, die Kinder in ihre Familien zurückzubringen. Das ist aber nicht immer sinnvoll,“so Detlev Bartsch. Denn die seien meist nicht in der Lage, ihre Kinder zu ernähren, sondern schlicht überfordert.

Viele Straßenkinder haben über Jahre Lösungsmittel geschnüffelt oder andere Drogen konsumiert. Sie sind sehr aggressiv sich selbst und anderen gegenüber: schneiden sich selbst in die Haut oder gehen ohne ersichtlichen Grund mit Messern auf andere Kinder los. Straßenkinder in ein „zivilisiertes“Leben zurückzuführen erfordert viel Fingerspitzengefühl, Geduld und Entgegenkommen: „Die Straße ist eine Droge – für die Kinder bedeutet sie Freiheit, Unabhängigkeit. Teilweise fühlen sie sich wohl in ihrer Situation“weiß Suzan Kamcili. Da bedarf es attraktiver Alternativen, um sie von der Straße zu holen.

Diese Alternativen sollen die türkischen Hilfsorganisationen selbst suchen und finden; die Rot-Kreuz-Mitarbeiter bringen keine Patentrezepte mit nach Izmir. Sie können zwar auf eigene Erfahrungen mit Straßenkindern in Deutschland zurückgreifen – aber deren Motivation, auf der Straße zu leben ist eine völlig andere. Suzan Kamcili: Deutsche Kinder suchen den ultimativen Kick. Wenn sie sich dazu entscheiden, auf der Straße zu leben, dann aus Übersättigung. Eine Art „Elends-Tourismus“.“

Britta Amediek