In der größten Stadt der Welt geht die Sonne auf

■ Am Sonntag bestimmen die BürgerInnen von Mexiko-Stadt erstmals selbst ihren Bürgermeister. Favorit ist Cuauhtémoc Cárdenas, der Kandidat der linken Opposition

Mexiko-Stadt (taz) – Die grell geschminkte Dame mit dem maisgelben Halstuch bricht in Tränen aus. „Es muß sich doch endlich etwas ändern in diesem Land!“ schluchzt sie. Dann tupft sie die Augen ab und funkelt beschwörend. „Bei den letzten Wahlen vor drei Jahren hatten noch viele Angst vor der Opposition“, sagt die pensionierte Lehrerin, „aber heute ist die Angst vor Hunger und Arbeitslosigkeit größer als alles andere.“ Sie trinkt ihren Kaffee aus und macht sich auf zum Zocálo. Auf dem großen Platz im Zentrum vom Mexiko-Stadt wird der Spitzenkandidat der linken Partei der Demokratischen Revolution (PRD), Cuauhtémoc Cárdenas, seinen Wahlkampf beenden.

Eingerahmt von prunkvollen Kolonialbauten leuchtet der Platz in Sonnenblumenfarben: gelb- schwarze Plastikfähnchen ragen aus dem Menschenmeer, um die sonnenverbrannten Nacken vieler HauptstadtbewohnerInnen ist ein knallgelbes Halstuch mit der schwarzen Aztekensonne geknotet, das Logo der PRD. „Es wird Zeit, daß die Sonne aufgeht“, steht auf T-Shirts.

Die größte Stadt der Welt wird mündig: zum erstenmal dürfen die BewohnerInnen von Mexiko- Stadt am Sonntag ihren Bürgermeister selber wählen. Bislang wurde der Regent der Megametropole, in deren Umkreis etwa 22 Millionen Menschen zu Hause sind, stets vom Präsidenten eingesetzt –, und beide entstammen seit fast 70 Jahren immer der Institutionell-Revolutionären Regierungspartei (PRI). Diesmal aber hat die Linke beste Aussichten, der Staatspartei das Amt abzujagen.

Registriert sind acht Anwärter auf den Bürgermeisterposten. Spannend aber dürfte es nur zwischen dem PRD-Kandidaten Cárdenas und seinen beiden stärksten Kontrahenten werden, dem PRI- Kandidaten Alfredo del Mazo und dem konservativen Intellektuellen Carlos Castillo Peraza, der für die rechtskatholische Partei der Nationalen Aktion (PAN) angetreten ist. Letzten Umfragen zufolge käme Cárdenas mit knapp 40 Prozent der Stimmen auf mehr als seine beiden Gegenspieler zusammen. Ihnen werden jeweils 16 Prozent prophezeit.

Ein Großteil des Erfolgs der PRD geht auf das Konto von Cuauhtémoc Cárdenas. Der Ingenieur und Sohn des ehemaligen Staatspräsidenten Lazaro Cárdenas war vor zehn Jahren aus der PRI ausgetreten und 1988 als oppositioneller Präsidentschaftskandidat angetreten. Zwar wurde der PRI-Technokrat Carlos Salinas de Gortari unter dubiosen Umständen zum Wahlsieger deklariert, in der Hauptstadt aber bekam Cárdenas die Mehrheit der Stimmen. Sechs Jahre später trat „El Ingeniero“ ein zweites Mal gegen die Staatspartei an und verlor gegen den jetzigen Präsidenten Ernesto Zedillo. Heute aber lächelt der 63jährige siegesgewiß in die Fernsehkameras. Eines seiner zentralen Themen ist die öffentliche Sicherheit. Die Militarisierung der hauptstädtischen Sicherheitskräfte will der PRD-Kandidat wieder rückgängig machen. Statt dessen schlägt er eine Reform des Polizeiapparats vor.

Auch sonst wartet Cárdenas mit pragmatischen Vorschlägen für eine „demokratische“ und „dezentrale“ Stadtentwicklung auf: von Projekten für Straßenkinder über die Gründung von Bildungszentren bis zum Bau von Wasserleitungen für die Armenviertel. Zentrales Prinzip sei die „soziale Partizipation“ der BürgerInnen. Zunächst aber gehe es um „die friedliche und geordnete Machtübergabe“.

Die könnte schwierig werden. Zwar bezeichnen PRI-Strategen den Vorsprung ihres Gegners in vertraulichen Papieren als „fast unüberwindbar“, dennoch versucht das Imperium zurückzuschlagen. Hatte man sich zunächst noch darauf konzentriert, die konservative PAN als „faschistisch“ zu entlarven, so bemüht sich die PRI nun, die WählerInnen über die „Bedrohung von links“ aufzuklären. Flankiert werden derlei Warnungen von einer Kampagne der besonderen Art: Wahlhelfer der PRD entdeckten zwei Videostudios, in denen Zehntausende Kopien eines Anti-PRD-Spots gefertigt wurden. Darin sind Cárdenas- Reden zu Bildern von Aufruhr und Gewalt montiert.

Eine „selbstkritische Zeit“ sei für die PRI angebrochen, verkündet Alfredo del Mazo vom Podium auf dem Zócalo, auf dem einen Tag später die rot-weiß-grünen Vaterlandsfarben der Regierungspartei vorherrschen. Unten aber überwiegen die alten Gebräuche: den Angestellten der Stadtverwaltung wird ein Tageslohn abgezogen, wenn sie die Veranstaltung schwänzen, und keiner darf den Platz verlassen, bis der Kandidat seine Rede beendet hat. Der gibt vertraute Losungen aus: die PRI, so del Mazo, sei „die rechtmäßige Erbin der mexikanischen Geschichte“. Wie hatte der bekannte Intellektuelle Carlos Monsiváis am Vortag bei seinem Bummel über den Platz noch bemerkt? „Sollte die PRI den Versuch unternehmen, die Ergebnisse nicht anzuerkennen, wäre das der letzte Beweis für ihren Mangel an Realitätssinn.“ Anne Huffschmid

Porträt Seite 11