Die Epoche der "Demokratur" in Mexiko ist vorbei: Nach fast sieben Jahrzehnten unumschränkter Alleinherrschaft hat am Sonntag die Regierungspartei PRI ihre absolute Mehrheit im Parlament verloren. Mexiko-Stadt feierte am selben Abend, noch

Die Epoche der „Demokratur“ in Mexiko ist vorbei: Nach fast sieben Jahrzehnten unumschränkter Alleinherrschaft hat am Sonntag die Regierungspartei PRI ihre absolute Mehrheit im Parlament verloren. Mexiko-Stadt feierte am selben Abend, noch unter dem Eindruck des Vulkanausbruchs, ausgelassen seinen ersten freigewählten Bürgermeister: Cuauhtémoc Cárdenas, den „aztekischen Tony Blair“.

Tanz unter dem Vulkan

Während der Vulkan Popocatepetl, der die BewohnerInnen der mexikanischen Hauptstadt in den letzten Tagen mit feinem Ascheregen in Panik versetzt hatte, auch am Wahlsonntag noch bedrohliche Rauchschwaden ausstieß, feierte Mexiko-Stadt schon am selben Abend ihren ersten freigewählten Bürgermeister. Und dieser wird, zum allerersten Mal in der Geschichte der fast siebzig Jahre lang regierenden Staatspartei PRI, aus den Reihen ihrer erklärten Gegner stammen: Der 63jährige Ingenieur Cuauhtémoc Cárdenas, Spitzenkandidat der linken Partei der Demokratischen Revolution PRD, wird ab dem 5. Dezember dieses Jahres die Geschicke der größten Stadt der Welt bestimmen.

„Das ist ein Sieg für die Demokratie!“ rief Cárdenas auf dem mitternächtlichen Zocalo, dem riesigen Platz im Herzen der Hauptstadt, und winkte dabei den Tausenden zu, die mit Feuerwerk, Hupen und Trillerpfeifen den Sieg des „El Ingeniero“ feierten.

Trotz des erdrutschartigen Wahlergebnisses (nach Auszählung von knapp 80 Prozent der Stimmen führte Cárdenas mit 47,7 Prozent) gab sich Cárdenas im allgemeinen Siegestrubel zurückhaltend. „Wir werden die Stadt mit Verantwortung, Ordnung und Ehrlichkeit regieren“, versprach der Mann, der vielen bis vor kurzem noch als Radikaler galt, auf dem improvisierten Holzgerüst. Kurz zuvor hatte sich der Wahlsieger vor den TV-Kameras noch beim Präsidenten bedankt: Er sei „politisch und persönlich“ erfreut darüber, daß Ernesto Zedillo ihm im Fernsehen gratuliert hatte.

Dabei hatte der Präsident seinem einstigen Gegenspieler – vor drei Jahren war Cárdenas noch als Präsidentschaftskandidat für die PRD gegen den damaligen PRI- Kandidaten Zedillo angetreten – das „größtmögliche Glück bei seiner delikaten Mission“ gewünscht und ausdrücklich eine „respektvolle Zusammenarbeit“ angeboten. Noch beeindruckter aber waren die Journalisten von der Reaktion des Wahlverlierers Alfredo del Mazo. Dieser lobte ausdrücklich den „demokratischen Fortschritt“ dieses „einzigartigen Wahltages“ und beglückwünschte knapp dreieinhalb Stunden nach Schließung der Wahllokale als erster seinen linken Kontrahenten. „Das ist absolut historisch“, flüsterte ein Reporter des regierungsnahen Televisa-Konzerns bewegt. Auch die ausländischen Kollegen schüttelten ungläubig den Kopf: „Das ist eine andere PRI.“

Vertraut hingegen klangen die Töne des PRI-Vorsitzenden Humberto Roque, der es auf einer knapp gehaltenen Pressekonferenz vorzog, das Wahldesaster in der Hauptstadt, in deren Umkreis immerhin ein Fünftel der knapp 90 Millionen MexikanerInnen zu Hause und ein Viertel der Industriebetriebe des Landes angesiedelt sind, mit keinem Wort zu erwähnen. Statt dessen betonte Roque, daß seine Partei sich bei den Parlamentswahlen als „stärkste Kraft“ bewährt habe – allerdings ohne ihre angestammte absolute Mehrheit. (Nach Auszählung von 80 Prozent der Stimmen lag die „Partei der Institutionalisierten Revolution“, PRI, bei 38,17 Prozent.)

So werden sich die PRI-Parlamentarier im Kongreß, der künftig zu knapp zwei Dritteln mit Abgeordneten der Oppositionsparteien besetzt sein wird, an neue Spielregeln gewöhnen müssen. Denn auch im Parlament dürfte die Epoche der mexikanischen „Demokratur“ unwiderruflich vorbei sein. Das im Laufe vieler Jahrzehnte entstandene Machtmonopol der PRI – das durch Krise, Korruption und Drogenfilz in den letzten drei Jahren ohnehin schon in eine dauernde Legitimationskrise gestürzt worden war – ist nach Meinung des Historikers Enrique Krauze am 6. Juli „endgültig“ gebrochen worden: „Im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit“, so Krauze, erscheine die PRI heute mehr denn je „wie ein nackter Zauberer, dessen Tricks wir alle schon kennen“.

Einer der wichtigsten „Tricks“ zur Machterhaltung bestand traditionell in der Manipulation der Wahlergebnisse. Dank der Wahlgesetzreform jedoch, die alle Parteien im August vergangenen Jahres verabschiedet hatten, konnte das „Gespenst des Wahlbetrugs“ diesmal weitgehend gebannt werden. Denn diesmal befand sich das Bundeswahlinstitut IFE, das bis 1996 noch dem Innenministerium unterstand, tatsächlich in Bürgerhand. „Eine Wahl von Bürgern für Bürger“, warb das IFE für den Urnengang und bildete dafür mehr als 730.000 MexikanerInnen in Crashkursen zu Eintagsfunktionären aus.

Außerdem wurden die Ergebnisse der offiziellen Auszählung erstmals direkt ins Internet eingegeben; bei den Präsidentschaftswahlen 1988 war der PRI-Aussteiger Cuauhtémoc Cárdenas nach Ansicht vieler MexikanerInnen von der PRI mittels einer ominösen „Computerpanne“ um seinen Wahlsieg betrogen worden. War die PRD vom damaligen Wahlsieger Carlos Salinas de Gortari sprichwörtlich zum Todfeind erklärt worden – Schätzungen zufolge sind seit 1988 rund 500 linke Aktivisten ermordet worden –, so scheint das Verhältnis zu dessen Nachfolger sich heute um einiges entspannter zu gestalten. Bei aller Höflichkeit aber machte Cárdenas auch an diesem Sonntag noch einmal unmißverständlich klar, daß es ihm ums Ganze geht. Und zwar ums ganze Land: „Heute haben wir die Stadt gewonnen“, sagte er bei seinem ersten Auftritt im überquellenden Salon eines Luxushotels und spreizte die Finger zum Siegeszeichen. „Und wir haben vor, im Jahre 2000 auch die Präsidentschaft zu gewinnen.“

Doch bis dahin sind es noch drei lange Jahre. Cárdenas sei sicher „ein ehrlicher Mann“, sagte am Sonntag ein siebzigjähriger Kleinunternehmer, der sein Kreuzchen bis dahin bei der rechten Opposition gemacht hatte. „Mal sehen, ob der hält, was er verspricht.“ Auch für den mexikanischen Autor Carlos Monsiváis, der sich als undogmatischer Intellektueller stets der antiautoritären Subversion verpflichtet fühlt, wird Cárdenas' Erfolg von neuen Formen und Kanälen der Kommunikation zwischen Regierten und Regierenden abhängen: „Wie sollen wir etwas begründen, das bis jetzt undenkbar schien: daß die Bürger tatsächlich ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen?“ so Monsiváis.

Manche sehen in Cárdenas, der von Newsweek schon zum „zweitmächtigsten Mann“ Mexikos gekürt wurde, eine Art „mexikanischen Jospin“ oder gar einen „aztekischen Tony Blair“. Vorerst aber handelt es sich wohl eher um eine „Normalisierung des politischen Lebens“, wie der Schriftsteller Carlos Fuentes am Wahlsonntag bemerkte. Was nach „fast siebzig Jahren in der Anormalität“ beileibe keine Kleinigkeit ist. Anne Huffschmid, Mexiko-Stadt