Gelassener Abschied von einem Mythos

François Furet hat mit seinem Buch „Das Ende der Illusion“ auch in Deutschland für Aufsehen gesorgt. Mit großen Strichen skizzierte er die Geschichte der letzten 200 Jahre. Er starb am Samstag im Alter von 70 Jahren  ■ Ein Nachruf von Iring Fetscher

Nur wenige Wochen nachdem er zum Mitglied der Académie Française gewählt worden war, ist François Furet in Paris gestorben. Ein französischer Student hatte mir schon vor ein paar Tagen berichtet, daß der bedeutende Historiker beim Tennisspiel zusammengebrochen sei und in Lebensgefahr schwebe.

Im vergangenen Jahr erregte er mit seinem Buch „Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert“ auch in Deutschland Aufsehen. Der gelassene Abschied von einem französischen Mythos wurde von den meisten deutschen Rezensenten als befreiend begrüßt. Furet, der, wie die meisten französischen Intellektuellen seiner Generation, einige Jahre Mitglied der KPF und überzeugter Anhänger des „Marxismus-Leninismus“ gewesen war, hatte sich mit seiner Studie „Penser la Révolution Française“ (1978) von jenem „Mythos“ gelöst, der die gesamte französische Linke bis in die Gegenwart herein geprägt hat.

Französische Sozialisten, Kommunisten und Radikale empfanden sich als Erben der „Großen Revolution“. Kommunisten hielten die Oktoberrevolution für die legitime Fortsetzung dessen, was 1789 in Paris begonnen hatte. Der welthistorische Fortschritt begann mit der französischen Aufklärung und würde in einer klassenlosen Weltgesellschaft enden. In einem Kapitel des Revolutionsbuches dekretiert Furet entschieden, „die Französische Revolution ist beendet“. Damit widersprach er den meisten französischen Linken und auch der „herrschenden Lehre“ unter den Historikern der Revolution. Mit Alexis de Tocqueville unterstrich er das Moment der Kontinuität zwischen dem autoritären Ancien régime und den zentralistischen und bürokratischen Aspekten der postrevolutionären Gesellschaft. Mit dem von den meisten früheren Revolutionshistorikern übergangenen oder als reaktionär verabscheuten Augustin Cochin entwarf er ein kritisches Bild des Jakobinismus, der in diesem Licht als ein Vorläufer des elitären Leninismus erscheint. Im Unterschied zu den Kritikern Cochins, die ihm eine primitive Verschwörungstheorie unterstellen, zeigt Furet, daß die Freimaurerei von ihm nicht als revolutionäres Komplott, sondern als Prototyp der neu sich bildenden politischen Elite aufgefaßt wird.

Manipulation durch anonyme Gruppen

Im Unterschied zur marxistischen Interpretation der Revolution als einer Folge gesellschaftlicher Konflikte – als Sieg der aufsteigenden Bourgeoisie über den Feudaladel – erblickt Cochin – und mit ihm Furet – in ihr „eine politische Dynamik: die Manipulation der Gesellschaft und die Eroberung der Macht durch anonyme Gruppen, die sich als Verwalter der neuen Souveränität im Namen der Gleichheit des Volkes“ darstellen. Eine mißbräuchliche Inanspruchnahme der Verwaltung nicht aufgrund eines Komplotts, sondern als „Folge der neuen Legitimität – der direkten Demokratie –, die mechanisch eine ganze Kaskade von Usurpationen produziert, deren Gesamtheit die revolutionäre Macht darstellt“.

Das Buch „Le passé d'une illusion“ („Das Ende einer Illusion“) setzt den Gedankengang des Revolutionsbuches fort. Im Grunde wird erst von ihm aus die kritische Auseinandersetzung Furets mit der Französischen Revolution ganz verständlich. Der sowjetische Marxismus und die Gewaltherrschaft der KPdSU unter Stalin und seinen Erben entlarvt gleichsam das schon im Jakobinismus angelegte Potential einer autoritären Minderheitsherrschaft im Namen der Volkssouveränität und schließlich des zu emanzipierenden Weltproletariats. Ich habe Furet anläßlich seines Vortrags über sein letztes Buch darauf hingewiesen, daß Marx und vor allem Engels die Jakobiner keineswegs immer so positiv gesehen haben, wie später Lenin, dessen Definition des sozialistischen Revolutionärs als „fest mit der Arbeiterklasse verbundenen Jakobiners“ auch Rosa Luxemburg energisch kritisiert hat. Es war aber sicher kein Zufall, daß der ehemalige französische Marxist-Leninist die Distanz zwischen Lenin auf der einen Seite und Marx, Engels und Rosa Luxemburg auf der anderen nicht wahrgenommen oder jedenfalls nicht ernst genommen hat. Er wies darauf hin, daß solche kritische Distanzierungen von den Jakobinern historisch nicht wirksam werden konnten, weil sie für die erfolgreiche revolutionäre und diktatorische Praxis unbrauchbar (bzw. schädlich) waren. Am meisten Anstoß hat Furets Hinweis auf Ähnlichkeiten zwischen Kommunismus und Faschismus und seine Kritik an dem verbreiteten Mißbrauch des Antifaschismus durch kommunistische Parteien erregt. Auch wenn Furet hier manchmal zu rasch verallgemeinert, kann seine Betonung der strukturellen Ähnlichkeiten vor allem zwischen der nationalsozialistischen und der stalinistischen Herrschaftsordnung inzwischen durch erstaunliche Bemerkungen von Joseph Goebbels in dessen diktierten Tagebüchern aus den Jahren 1941–1945 bestätigt werden.

Eindrucksvolles Bild von 1789 bis heute

Die Äußerungen von Goebbels wie die von Hitler über Stalin variieren zwischen Haß, Bewunderung und Neid. Bewundernd merkt Goebbels am 20. 5. 1943 an, „was Stalin nicht alles aus diesem Volke gemacht hat. Eine autokratische Staatsführung kann aus dem russischen Volke sehr viel herausholen, besonders wenn sie ganz auf Kriegführung und revolutionären Angriff eingestellt ist...“ Von Hitler merkt er an, daß er gegenüber Stalin „eine ständig steigende Bewunderung“ hege, und Stalins Gesetze für Mutterschutz, gegen Abtreibung und Prämierungen für Kinderreiche erfüllen auch Goebbels mit Hochachtung. Parallel zur Kritik des mißbrauchten Antifaschismus hätte Furet allerdings auch den von den Nazis mißbrauchten Antikommunismus (Antibolschewismus) und dessen Amalgamierung mit dem Antisemitismus erwähnen müssen, um das Bild zu vervollständigen.

Die beiden genannten Bücher François Furets geben ein eindrucksvolles, gleichwohl einseitiges Bild der Entwicklung von 1789 bis zur Gegenwart. Vor allem wird das Erbe der Französischen Revolution zu Unrecht auf den terroristischen Jakobinismus konzentriert und die Bedeutung anderer auf das geistige und politische Leben Europas und der übrigen Welt einwirkenden Traditionen vernachlässigt.

Zu diesen Traditionen gehören die Bürger- und Menschenrechte, der Code Napoléon, die Emanzipation der Juden und die Beseitigung der Reste der Leibeigenschaft der Bauern. Das linksrheinische Deutschland und die klassische deutsche Philosophie verdanken der Französischen Revolution zu viel, um dieses welthistorische Ereignis ganz unter die angemaßten Ansprüche der kommunistischen „Fortsetzer“ und deren verdientes Scheitern subsumieren zu dürfen. François Furets Werk bleibt aber das Verdienst, mit großen Strichen die Geschichte der letzten 200 Jahre skizziert und damit unser kritisches Bewußtsein herausgefordert zu haben. Auch wer ihm nicht immer zu folgen vermag, wird seinen anregenden Arbeiten gegenüber dankbar bleiben.

Furets Buch „Das Ende der Illusion“ ist 1996 im Piper-Verlag erschienen. (Vgl. auch die Besprechung von Iring Fetscher in der taz vom 23. 3. 1996.)