„Unsere Fahrer kennt keine Sau“

Merdingen liegt zentraler als Hohenschönhausen: In Jan Ullrichs altem Verein SC Berlin weiß man um die eigenen Verdienste beim Aufbau des Tour-Favoriten, doch zum Etappengucken fehlt die Zeit  ■ Von Basil Wegener

Wegen 11,06 Minuten mußten sich die Journalisten aus Kopenhagen nach Hohenschönhausen durchfragen. Soviel trennte Bjarne Riis in den Alpen von Jan Ullrich. Anstatt nun die Homestories über ihren Landsmann aus der Schublade zu ziehen, hatten die Zeitungsleute im Sportforum nach den Wurzeln des Tour-de-France- Favoriten Ullrich zu fahnden – zunächst vergebens. Schließlich lief ihnen wenigstens Radmechaniker Alfred Bullack entgegen, der recht verdutzt war, als er plötzlich über die Jahre 1987 bis 1992 ausgefragt wurde. Damals besuchte Jan Ullrich die Kinder- und Jugendsportschule des SC Dynamo.

„Wie wenn ein Vulkan ausbricht“ sei es seit Beginn der Woche, sagt Bullack über das plötzliche Medieninteresse an der Radsportabteilung des heutigen SC Berlin. Bald ist es damit wieder vorbei, denn eigentlich interessieren sich alle nur für Ullrich. Woher kommt denn nun die erschreckend große, fast langweilige Stärke des Tour-Favoriten? Während sich der Rest Deutschlands mit naheliegenden Erklärungen zufriedengibt, dem Lungenvolumen und den Hebelverhältnissen des „Giganten“ (Bild), ist Michael Drabinski sicher: „Die Wurzeln liegen hier.“

Drabinski, schon vor der Wende Organisationsleiter der Radsportabteilung, erinnert sich an den 14jährigen Ullrich, der von Trainer Peter Becker in einen 15köpfigen Jahrgang von Rostock nach Berlin geholt wurde. Besser als die anderen war Ullrich zunächst nicht, eher „biologisch jünger“. Leistung wurde in der Schule gefordert, mehr noch im Training. Daß Trainer Becker im Team Telekom heute jedoch teilweise alte Methoden angekreidet werden, findet Drabinski ungerecht. „Wir hatten eine Wissenschaftlichkeit, die nun auch der Telekom nutzt.“

Eher zufällig weilt heute Jürgen Schulze, Radsportchef des SC Berlin, im etwas verschlafenen Vereinshaus. Der Wirtschaftsberater, der im 1.000-m-Zeitfahren selbst 1972 olympische Bronze nach Berlin holte, setzt ein gütiges Lächeln auf. Und spricht davon, daß Telekom nun „Erfahrungswerte von Generationen von Radsportlern konsumiert“. Vor allem bei der Taktik.

Trotzdem geben die Kaderschmiede zu, daß der heutige Träger des gelben Trikots recht hatte, 1992 mit Peter Becker nach Hamburg zu wechseln. In Berlin hätte der Trainer keine Trägergesellschaft mit Sponsoren gehabt, sondern nur eine ABM-Stelle. Viele sind damals gegangen, auch Fahrer, die in Hohenschönhausen aufgebaut wurden. Andere sind geblieben, etwa Guido Fulst. Doch wen interessiert schon, daß der 1996 drei Medaillen in internationalen Meisterschaften holte? „Unsere Fahrer kennt keine Sau“, klagt Drabinski. Zuerst kommt die Tour de France, dann die Tour de France, dann lange nichts.

Während Ullrich heute geschätzte 600.000 Mark Gehalt bezieht, muß sich die gesamte SC- Radsportabteilung (150 Aktive) mit knapp 200.000 Mark im Jahr, vor allem vom Hauptsponsor Daimler, bescheiden. Sponsoren machten um die sozialistische Kaderschmiede nach der Wende einen Bogen, heute herrscht unter den Berliner Vereinen ein harter Konkurrenzkampf um die Geldgeber. Drabinski möchte gern Ullrichs Teamkollegen, den Berliner Erik Zabel, zum Traditionsrennen „Rund um Berlin“ im September holen. Er fürchtet aber, daß das astronomische Kosten von 20.000 Mark verursachen würde.

Jan Ullrichs Merdingen liegt weit weg von Hohenschönhausen und in manchem zentraler. „Da rennen ihm nun die Sponsoren hinterher“, weiß Drabinski. Anstatt nachmittags ihren Exschützling auf den letzten Tour-Kilometern im Fernsehen zu verfolgen, schöpft der Organisator lieber Hoffnung und telefoniert wieder einmal einem möglichen Geldgeber hinterher. Eine Mitarbeiterin verbindet ihn nach draußen. Weiß die was Neues aus Frankreich? Nun, immerhin, daß Ullrich „ins Ziel gekommen ist“.