Von hungrigen Sowjetstrünken

■ Aalglatts und Zuschnapps: Novellen aus dem postsozialistischen Alltag

Längst vorbei sind die Zeiten, da russische Verlage und Zeitschriften immer wieder neue Fundstücke der lange unterdrückten Samisdat-Literatur ans Licht holten. Der Sensationswert dieser Veröffentlichungen ließ in demselben Maße nach, wie der Mangel und die Not wuchsen, die den postsozialistischen Alltag heute bestimmen. Auch die einstigen sowjetischen Großschriftsteller sind ins Hintertreffen geraten – es sei denn, sie haben sich zu Nationalisten oder Antisemiten entwickelt. Reißenden Absatz finden gegenwärtig vor allem die Produkte der Trivialliteratur. Jüngere Autoren haben vor diesem Hintergrund kaum eine Chance, wahrgenommen zu werden. Die beiden Autoren Michail Butow (geb. 1964) und Alexander Tschernizki (geb. 1965) bilden eine rühmliche Ausnahme von der Regel. Gerade erst ist hierzulande ein Band erschienen, der – in der Übersetzung von Thea-Marianne Bobrowski – je eine Erzählung dieser Autoren enthält.

Schon der Titel von Butows Novelle – „Identifikation“ – verweist auf das psychologische Sujet, dem die Geschichte verpflichtet ist. Ein Frauenmörder wird gesucht, der Erzähler wird durch den Kommissar, einen alten Afghanistan-Kameraden, an den Ermittlungen beteiligt. Immer stärker fühlt sich der Erzähler in die Perspektive des Verbrechers ein, bis die Grenzen zwischen beiden zu verschwimmen drohen und der Unterschied zwischen ihnen schließlich in Kumpanei aufgeht. Die Geschichte spielt in Moskau, vor der Kulisse der überbevölkerten russischen Metropole, in dunklen Hinterhöfen und maroden Plattenbausiedlungen. Dieser Raum wird mit der gleichen Sicherheit wie der Innenraum der Figuren geschildert – als ein leeres Gehäuse, dem der Inhalt, eine Idee für die Zukunft und damit auch die Daseinsberechtigung abhanden gekommen ist. Das scheinbar sinnlose Töten bezieht aus dieser Atmosphäre eine eigene Logik – indem es wie die Flucht nach vorn wirkt. Butow hat mit seiner provokanten Erzählung viel Beachtung gefunden, heute arbeitet er in der Redaktion der angesehenen Literaturzeitschrift Nowy mir.

Weniger ernst nimmt der Schriftsteller Alexander Tschernizki den neukapitalistischen Alltag in Rußland aufs Korn, der zu wundersamen merkantilen Aktivitäten in der Bevölkerung geführt hat: Shopping-Tourismus heißt das Stichwort, um das sich Tschernizkis Geschichte „Besuch beim Papst“ dreht. Die Familien Zuschnapp, Aalglatt, Bissig und Schmierig nutzen den Papstbesuch in Czestochowa, laden säckeweise Ramsch ein und deklarieren ihre Verkaufsreise nach Polen als Pilgerreise. Das spart die Bahnkosten und bringt auch sonst eine Menge Vergünstigungen mit sich. Überall außerhalb von Rußland gibt es gutgläubige Leute („Idioten“), die darauf hereinfallen: Pfarrer lassen die Geschäftsreisenden übernachten, Organisatoren der Wallfahrt versorgen sie mit Wurstbrötchen und Tafelwasser, und Autofahrer nehmen die Gäste aus Rußland ein Stückchen mit – alles gratis.

Den Pilgern ist, wie man leicht erraten kann, nicht viel am Papst gelegen. Dagegen suchen und finden sie mit sicherem Gespür in jeder Stadt die „Orte der Erleichterung“, also jene Märkte, auf denen sie einen Teil ihres Plunders gewinnträchtig verscherbeln können, um mit weniger Gepäck die Reise fortzusetzen. „Vereint marschieren, getrennt schlagen“ heißt die Devise. Mit neidischen Seitenblicken schätzen die Familien gegenseitig ihre jeweiligen Tageseinkünfte ab: Was nützt es, daß Familie Aalglatt die besseren Waren hat („japanische Jogginganzüge“), wenn überall, wo sie auftaucht, schon die Zuschnapps waren? Da hilft nur genaue Kenntnis der Konjunktur: „Radomsko ist ein zauberhaftes Städtchen. Der Mist, den gestern keiner auch nur eines Blickes gewürdigt hatte, ging weg wie warme Semmeln. Wir rauchten und amüsierten uns köstlich, besonders, als wir das Tafelwasser für siebentausend losschlugen.“

Landsleute werden schon von weitem erkannt: „Am Eisengitter eines düsteren Parks saßen und standen Hausierer in den unterschiedlichsten Haltungen herum. Hundertprozentig unsere Leute.“ Man gibt sich kollegial, ist man doch selbst einer der „seit langem ungewaschenen, hungrigen Sowjetstrünke“, Strandgut eines gesellschaftlichen Experiments, das zugleich mit der Armut ein unglaubliches Potential hervorgebracht hat, ihr kreativ zu begegnen – Durchschummeln gehörte schon immer zum Leben. Tschernizki beschönigt nichts, er setzt auch nicht auf Distanz. Die Sprache ist auf ironische Weise kunstlos: „Der Abend packte den Tag bei der Gurgel“, heißt es etwa im rabiaten Stil der Erzählung. Geschmacklosigkeit als Programm – nirgendwo ist die Gefahr größer, ins unverbindlich Provokante abzugleiten. Dem Autor ist der sprachliche Drahtseilakt jedoch gelungen. Wenn es zudem so etwas wie eine Botschaft in seiner Geschichte gibt, dann könnte sie lauten: Ihr Leute in Zehlendorf, Schwabing, Blankenese usw., haltet eure Sachen zusammen, bald stehen wir auch vor eurer Tür. Aber dann ist sowieso alles zu spät. Peter Walther

Michail Butow: „Identifikation“; Alexander Tschernizki: „Begegnung mit dem Papst“. Zwei Novellen, Irmtraud Carl Verlag 1997, 229 Seiten, 19,90 DM